Überzeugungsarbeit ist besser als Ausstattungspflicht

Ingolstadt. Fahrerassistenzsysteme können schwere Unfälle verhindern. Aber wenn sie aufpreispflichtig sind, nehmen die meisten Kunden Abstand vom Kauf. Alejandro Vukotich, Leiter Entwicklung Fahrerassistenzsysteme bei Audi, erläutert die Perspektiven für die Systeme.

Wir werden Fahrerassistenzsysteme bei Audi auf weiteres als Sonderausstattung anbieten. Somit hat jeder Kunde die Möglichkeit, sein Fahrzeug nach individuellen Wünschen und Bedürfnissen zusammenzustellen. Die Nachfrage nach Fahrerassistenzsystemen steigt kontinuierlich. Hat ein Kunde einmal ein Fahrerassistenzsystem gekauft, dann ist nach unseren Erfahrungen die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass er auch sein nächstes Fahrzeug damit ausstattet. Natürlich werden in kleineren und preissensibleren Modellreihen weniger Fahrerassistenzsysteme bestellt als in großen.

Aber wie kann man den Kunden an sein erstes Assistenzsystem heranführen?

Jeder kennt aus eigener Fahrerfahrung Situationen in denen man knapp einem Unfall entkommen ist. Diese Erfahrungen spielen bei dem Kauf eines Fahrerassistenzsystems eine große Rolle. Der Audi Side Assist warnt den Fahrer wenn er ein anderes Fahrzeug im toten Winkel übersieht. Die meisten hatten schon eine solche Situation und deshalb wird das System oft bestellt.

Aber besonders komplexere Assistenzsysteme müssen erst mit eigener Erfahrung erlebt werden, um mit ihren Vorteilen zu überzeugen. Hier können wir durch entsprechend ausgestattete Fahrzeuge, Fahrsimulatoren und geschultes Verkaufspersonal noch mehr erreichen.

Haben Sie schon Erfahrungen mit Fahrsimulatoren bei Händlern gesammelt?

Ja, wir hatten einen mobilen Fahrsimulator einigen Händlern zur Verfügung gestellt. Bei den Kunden kam das sehr gut an, viele waren begeistert.

Welche Ausstattungsraten erreichen Sie bei Assistenzsystemen?

Das ist selbst bei etablierten Systemen sehr unterschiedlich. Es verlässt kein A8 mehr das Werk ohne die akustische Einparkhilfe. Beim A3 entscheiden sich deutlich weniger Kunden für die Einparkhilfe. Und gleichzeitig bieten wir neue Fahrerassistenzsysteme an, die in einem A6 bei zehn bis 15 Prozent Einbaurate liegen. Insgesamt aber erleben wir eine kontinuierliche Steigerung in allen Segmenten. Gleichzeitig bauen wir unser Angebot in allen Fahrzeugmodellen aus. Im neuen A3 bieten wir die gesamte Palette von Assistenzsystemen an.

Beim ESP ist die letzte Ausstattungslücke erst 2011 per Gesetz geschlossen worden. Wäre eine Vorschrift zum Einbau bestimmter Assistenzsysteme hilfreich?

Es ist besser, den Kunden mit Argumenten und durch Selbsterfahrung davon zu überzeugen, als ihn mit Vorschriften und gesetzlichen Verpflichtungen zur Sicherheitsausstattung zu zwingen. Einen Schub dürften die Assistenzsysteme aber bekommen, wenn Bewertungsorganisationen zur Fahrzeugsicherheit wie Euro-NCAP die Systeme in ihre Sicherheitsbewertungen einbeziehen. Fünf Sterne werden vermutlich nur noch Fahrzeuge bekommen, die entsprechende Schutzsysteme an Bord haben.

Wann steht das zu erwarten?

Derzeit werden Inhalte und Testverfahren erarbeitet. Eine Einführung erfolgt dann ab 2014.

Können Sie einzelnen Assistenzsystemen ein konkretes Unfallvermeidungspotenzial zuordnen?

Ja. Allerdings müssen für diese Berechnungen so viele Annahmen getroffen werden, dass man am Schluss keine allgemeingültigen, exakten und mathematisch belastbaren Zahlen erhält, sondern nur eine Größenordnung. Deshalb macht es keinen Sinn, konkrete Zahlen zu nennen.

Das Umfeld des Fahrzeugs lässt sich schon weitestgehend mit Sensoren erfassen. Gasgeben, Lenken und Bremsen können die Fahrzeuge auch schon. Man müsste doch eigentlich all das nur zusammenfassen – und das autonome Fahren wäre Realität. Wann kommt es wirklich?

Wir sprechen bei Audi nicht vom autonomen, sondern passender vom "pilotierten“ Fahren, analog zum Flugverkehr: Der Autopilot steuert in den meisten Situationen das Flugzeug – aber der Flugzeugführer überwacht das System und steht jederzeit in der Verantwortung. Das ist auch unsere Philosophie. Wir werden den Fahrer in der Verantwortung belassen. Und es wird bei Audi immer so sein: Wenn der Fahrer selbst fahren und aktiv Fahrspaß erleben möchte, kann er dies tun.

Wäre es derzeit rechtlich möglich, den Fahrer aus der Verantwortung zu entlassen?

Nein, derzeit verlangt die Rechtslage, festgelegt im Wiener Weltabkommen von 1968, dass jedes Fahrzeug einen Fahrer haben muss und jeder Fahrer stets in der Lage sein muss, sein Fahrzeug zu beherrschen. Es geht also um die Definition der Verantwortlichkeit im Fahrzeug. Gemeinsam mit der Gesetzgebung, dem Kraftfahrtbundesamt und unseren Wettbewerbern diskutieren wir Möglichkeiten für eine rechtliche Grundlage.

Angesichts des schon sehr hohen Niveaus bei den Assistenzsystemen: Kann es unterhalb der Ebene des autonomen oder pilotierten Fahrens überhaupt noch nennenswerte Fortschritte geben?

Definitiv. Wir entwickeln Systeme zur automatischen Notbremsung sowohl für den Stadtverkehr wie auch für höhere Geschwindigkeiten. Ebenso werden Kreuzungsassistenten verfügbar sein, die vor Kollisionen warnen. Es werden Systeme kommen, die beim rückwärtigen Ausparken aus einer Parklücke vor Querverkehr warnen oder beim Türöffnen vor herannahenden Radfahrern oder anderen Fahrzeugen. Schließlich werden wir den Fahrer in klar beschriebenen Situationen von Aufgaben entlasten. Beispielsweise mit einem Stauassistenten, der bis zu einer bestimmten Geschwindigkeit automatisch beschleunigt, bremst und in gewissen Grenzen auch lenkt. Als Prototyp existiert bereits unser Parkpilot, der das Auto selbstständig in sehr schmale Garagen oder Parklücken fährt, nachdem der Fahrer ausgestiegen ist. Solche Funktionen werden Mitte des Jahrzehnts auf den Markt kommen. Weitere Fortschritte wird auch die Car-to-Car- und Car-to-Infrastructure-Kommunikation erlauben, beispielsweise Warnungen vor gefährlichen Verkehrssituationen oder Staus auf der zu fahrenden Strecke.

Wo werden die wesentlichen Fortschritte in den nächsten Jahren erfolgen: bei Sensoren, Rechnerhardware oder Software? Oder wird vielleicht die Psychologie immer wichtiger, weil es darum geht, den Fahrer nicht durch Assistenzsysteme abzulenken?

Fortschritte werden in allen genannten Bereichen stattfinden. Die Entwicklungen müssen dabei parallel erfolgen.

Wir werden neue Sensortechnologien einsetzen, die noch besser, noch genauer erkennen, was im Umfeld geschieht. Ein Beispiel ist unser PMD-Sensor – PMD steht für Photomischdetektor –, der dreidimensionale Abstandsmessungen erlaubt, präziser arbeitet als herkömmliche Sensorik und bei allen Licht- und Witterungsverhältnissen funktioniert.

Schließlich muss die zunehmende Informationsflut aus den Sensordaten auch verarbeitet werden, was neue Rechnerhardware erfordert. Und die Beherrschung komplexer Situationen wird auch immer weiter entwickelte Software benötigen. Beispielsweise um aus allen Sensorinformationen ein virtuelles Bild der kompletten Fahrzeugumgebung zu generieren, das alle Assistenzsysteme dann für ihre Arbeit nutzen können.

Wann wird es möglich sein, das Fahrzeugumfeld lückenlos zu erfassen?

Das Wort lückenlos ist für Sensorentwickler sehr mächtig. Wenn Sie mit lückenlos meinen, dass wir um das Fahrzeug einen "Erkennungsring“ legen, dann ist das etwa zur Mitte des Jahrzehnts vorstellbar. Den größten Teil der Umgebung können wir heute schon erfassen, nur seitlich des Fahrzeugs müssen wir die Sensierung noch ausbauen, um eine lückenlose Umfelderfassung zu erhalten. Wenn Sie mit "lückenlos“ meinen, dass wir alles, also auch in großer Entfernung erkennen, dann wird das noch einige Zeit dauern.

Wird es völlig neue physikalische "Kanäle“ geben, auf denen das Umfeld beobachtet wird?

Wir nutzen bereits Ultraschall, sichtbares und Infrarotlicht, unterschiedliche Radarfrequenzbereiche und künftig mit dem PMD-Sensor eine weitere Technologie. Im Wesentlichen wird es bei diesem Spektrum bleiben. Als wirklich neuer Kanal ist die Datenübertragung Car-to-X-Kommunikation in Sicht, die dem Fahrerassistenzsystem zusätzliche Informationen zur Verfügung stellt und damit das "Blickfeld“ beispielsweise auf den Bereich hinter der nächsten Kurve oder hinter den nächsten Hügel ausweiten kann.

Wie muss die ideale Ein- und Ausgabetechnologie bei Fahrerassistenzsystemen gestaltet sein?

Sie muss einfach und intuitiv sein. Vor allem darf sie nicht von der Fahraufgabe ablenken. Ein Beispiel dafür ist unsere Funktion Side Assist, die den Fahrer vor kritischen Spurwechseln warnt. Während der Entwicklung testeten wir mehrere Varianten der Warnungen: Haptische durch Vibrationen im Sitz oder im Lenkrad, akustische und optische Signale. Als optimale Lösung fanden wir eine blinkende LED im Gehäuse des Außenspiegels. Bei Gefahr nimmt der Fahrer das Blinken seitlich seines Blickfeldes unmittelbar wahr, sodass er seinen Blick intuitiv zum Spiegel wendet und das herannahende Fahrzeug im Spiegel sieht.

Können Sie ein weiteres Beispiel nennen?

Unser Lane Assist warnt den Fahrer, wenn er ungewollt die Fahrspur verlässt. Hier ergibt sich der optimale Warnmechanismus ebenfalls aus der Frage: Was muss der Fahrer in dieser Situation tun? - Gegenlenken. Also nutzen wir hier das Lenkrad, in der ersten Generation mit Vibrationen, im aktuellen Active Lane Assist kombiniert mit einer Rückstellkraft, die das Lenkrad in die richtige Richtung bewegt. So ermitteln wir für jede Situation den Informationskanal zum Fahrer.

Ein weiteres Beispiel aus unser Bedien- und Anzeigenphilosophie ist unser aktuelles Touchpad und die Sprachbedienung. Damit kann der Fahrer Eingaben machen, ohne den Blick von der Straße abzuwenden. Akustisch werden dabei die Eingaben bestätigt. Und das Head-up-Display zeigt wesentliche Informationen in der Windschutzscheibe, also direkt im Blickfeld des Fahrers, an.

Würde der Active Lane Assist das Fahrzeug auch selbsttätig in die Fahrspur zurücklenken, wenn der Fahrer die Hände vom Lenkrad nähme?

Das System registriert, wenn der Fahrer die Hände vom Lenkrad nimmt. In diesem Fall wird er nach einigen Sekunden mit einem akustischen Signal informiert und das System schaltet sich aus.

Wie erkennen Sie, ob der Fahrer die Hände am Lenkrad hat?

Jeder Fahrer führt gewisse Mikrolenkbewegungen aus, die vom System erfasst werden. Wenn sie ausbleiben, ist das ein Indikator dafür, dass der Fahrer keine Hand mehr am Lenkrad hat.

Ist es denkbar, dass wir bald neue Bedientechnologien wie Gestensteuerung im Auto finden? Sind sie im Pkw sinnvoll?

Eine Demo-Variante einer Gestensteuerung haben wir kürzlich auf der Consumer Electronics Show in Las Vegas vorgestellt: ein Dashboard mit drei nebeneinander liegenden Head-up-Displays, für den Fahrer, für den Fahrer und Beifahrer gemeinsam und eines nur für den Beifahrer. Damit ist es möglich, Inhalte per Handbewegung aus einem Display in das andere zu verschieben. Daraus ergeben sich schnelle und einfache Bedienmöglichkeiten.

Diese Situation erscheint etwas "konstruiert“ – sind in der Praxis sinnvolle Anwendungen vorstellbar?

Auf jeden Fall. In welcher Ausprägung, das wird sich noch herausstellen. Daran arbeiten wir. Wenn man eine Gestikbedienung intelligent mit einer beherrschbaren Gestensprache umsetzt, werden Funktionen bedienbar, ohne dass der Fahrer vom Fahrgeschehen unnötig abgelenkt wird.

Wenn man dem Fahrer Aufgaben abnimmt – beispielsweise per Adaptive Cruise Control –, könnte es sein, dass auch seine Aufmerksamkeit nachlässt oder sich verstärkt mit anderen, fahrfremden Aufgaben beschäftigt. Taucht dann plötzlich eine Situation auf, in der er eingreifen muss, wird er vielleicht "auf dem falschen Fuß“ erwischt. Wie lässt sich das verhindern?

Immer wenn wir merken, dass der Fahrer unaufmerksam ist, werden wir ihn wieder in das Fahrgeschehen zurückholen. Das realisieren wir beim Lane Assist dadurch, dass wir die Funktion abschalten und den Fahrer warnen. Wir werden zukünftig zusätzlich noch die Blickrichtung des Fahrers erfassen und auswerten. Sollte der Fahrer zu lange auf ein Display im Fahrzeug schauen, würden wir ihn entsprechend früher warnen und dafür sorgen, dass er wieder ins Fahrgeschehen zurück kommt.

Wie lang ist "zu lange“ auf ein Display schauen? Gibt es dafür anerkannte Maßstäbe?

Es gibt keine Standardwerte, die man dafür annehmen kann. Die Zeitspanne kann beispielsweise von der Fahrgeschwindigkeit, dem Verkehrsaufkommen und anderen sicherheitsrelevanten Einflüssen abhängig sein.

Assistenzsysteme werden immer umfangreicher, komplexer und von Fahrzeug zu Fahrzeug unterschiedlicher. Der Fahrer erhält immer mehr Informationen an den unterschiedlichsten Orten im Fahrzeug. Lassen sich damit ausgestattete Fahrzeuge noch sicher beherrschen, ohne dass der Fahrer eine typbezogene Schulung absolviert hat? Kommt der typbezogene Führerschein – so wie in der Luftfahrt?

Wenn das notwendig wäre, würden wir etwas falsch machen. Intuitive Lösungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie schnell und leicht verstanden und erlernt werden können.

Halten Sie eine herstellerübergreifende Vereinheitlichung zumindest bestimmter Basisfunktionalitäten für sinnvoll?

Ich glaube, dass sich gute Lösungen über die Zeit durchsetzen werden. Eine Standardisierung sehe ich im Moment noch nicht. Es ist so: gute Fahrerassistenzsysteme sind so ausgelegt, dass sie den Fahrer in seinen Grundaufgaben nicht beeinträchtigen. Wenn es jeder Automobilhersteller so macht, dann kann ich von einem Fahrzeug ins andere wechseln – ohne irgendwelche Einschränkungen.

Bei der Entwicklung hin zum pilotierten Fahren allerdings wird es keinen Alleingang eines OEMs geben. Das wird nur gemeinschaftlich realisierbar sein. Es müssen ja auch Gesetze angepasst werden und mit Sicherheit werden dann auch gewisse Rahmenbedingungen vorgeschrieben sein, die eingehalten werden müssen. Und in diesen werden sich die Systeme nicht unterscheiden.

Sie sagen mit Blick auf das pilotierte Fahren, eine gewisse Abstimmung sei nötig – die müsste ja sogar international stattfinden. Ist das realistisch mit China, Indien, Russland, Brasilien ...?

Das ist sicher eine Herausforderung für alle Beteiligten, die uns über einen längeren Zeitraum beschäftigen wird.