München. Dienstlichen E-Mails nach Feierabend und am Wochenende schieben manche Unternehmen einen Riegel vor. VW beispielsweise leitet dann keine Mails mehr auf die Smartphones der Mitarbeiter weiter. Langfristig wird der Trend in die entgegengesetzte Richtung gehen, Freizeit und Arbeit verschmelzen, sagt Prof. Arnold Picot (70), der an der LMU München lehrt.
Herr Picot, aktuell wird intensiv über die Erreichbarkeit von Mitarbeitern auch außerhalb ihrer eigentlichen Arbeitszeit diskutiert. Teilweise stellen Unternehmen ihren Mitarbeitern etwa E-Mails vor Arbeitsbeginn oder nach Arbeitsende nicht mehr zu. Wird sich dieser Trend fortsetzen? Oder ist es nur ein Hype?
Dieser Trend wird sich meines Erachtens nicht verstärken. Mit zunehmend flexiblen Arbeitszeiten, mit mehr standortunabhängigen und mobilen Arbeitsweisen ist das rigide Festhalten an fixen Arbeitszeitrastern immer weniger möglich und auch weniger sinnvoll. Viele Menschen wollen die Flexibilität, sie wollen selbst bestimmen, wann sie bestimmte Arbeiten erledigen. Fabrik und Büro als räumlich und zeitlich von dem Privaten abgegrenzte Arbeitsbereiche sind tendenziell auf dem Rückzug. Moderne Arbeitsmittel, veränderte Formen der Zusammenarbeit und des Datenzugriffs ermöglichen einer zunehmenden Zahl von Beschäftigen – allerdings nicht allen! – eine Emanzipation von diesem räumlich-zeitlichen Korsett.
Eine Untersuchung der Uni Kassel legte kürzlich nahe, dass selbst jene „Geistesarbeiter“, die eine Erreichbarkeit nach Dienstschluss ausdrücklich befürworten, doch schlechter schlafen und sich schlechter erholen, wenn Sie nach Feierabend dienstliche Telefonate führen oder E-Mails schreiben. Welche Fähigkeiten müssen die Menschen erlernen, um diese Vermischung psychisch und physisch gut zu überstehen?
Hier kommt es auf die Souveränität des Einzelnen an, auf seine Fähigkeit zu Selbstmanagement und Selbstverantwortung. Man muss lernen Pausen zu machen, Dinge einmal auch liegen zu lassen. Und andere müssen den jeweiligen Rhythmus respektieren. Das ist ein Lernprozess, der auch durch Schule, Familie und Betrieb zu unterstützen ist.
Wichtig ist beispielsweise, dass der Versand oder die Zustellung einer E-Mail nicht mit deren unverzüglicher Beantwortung gleichgesetzt wird. Hier müssen die Beteiligten sich gegenseitig Spielräume zugestehen und anerkennen, dass der eine vielleicht gern am Abend E-Mails versendet, der andere sie aber typischerweise mittags bearbeitet. Das ist, wie gesagt, ein Lernprozess. Jeder muss innerhalb bestimmter Grenzen die Zeitsouveränität des anderen respektieren.
Während beispielsweise mit der zeitlichen Einschränkung bei der Zustellung von E-Mails eine Trennung zwischen Arbeits- und Freizeit angestrebt wird, ermöglichen Unternehmen andererseits den Mitarbeitern die Telearbeit von einem beliebigen Ort aus. Führt das nicht gerade zu einer stärkeren Vermischung zwischen Arbeit und Freizeit? Sie selbst stellen ja in Ihren Prognosen eine „zunehmende Entgrenzung von Arbeit- und Freizeit“ in den Raum.
Ja, eine solche Vermischung findet zunehmend statt und wird von sehr vielen Menschen auch nicht als Problem gesehen. In einer Untersuchung des Münchner Kreis aus dem Jahr 2012 wurde festgestellt, dass zirka 70 Prozent der befragten – im weitesten Sinne – Wissensarbeiter für sich die Nichttrennbarkeit von Arbeit und Freizeit konstatieren und dass nur 26 Prozent sich wünschten, dass eine solche klare Trennung durchsetzbar sei. Dabei spielt vermutlich die Telearbeit in all ihren vielfältigen Formen eine gewisse Rolle. Zudem ist zu berücksichtigen, dass in der Menschheitsgeschichte immer schon Arbeit und Nicht-Arbeit äußerst eng verflochten waren und dass die räumlich-zeitliche Trennung in Fabriken und Büros eine relativ junge Erscheinung darstellt.
Um gute Mitarbeiter zu bekommen, tun Unternehmen immer mehr für die „Work-Life-Balance“ – wie kann künftig eine gute Ausgewogenheit zwischen Arbeit und Privatleben in der digitalisierten Arbeitswelt konkret aussehen?
Unternehmen müssen den Beschäftigten mehr individuelle Spielräume – durchaus auch im engen Sinne des Wortes – anbieten, damit Abschalten und Erholung gelingen. Dazu gehören auch Sabbaticals sowie die Anerkennung außerbetrieblichen Engagements etwa im Ehrenamt.
Wie könnten Entgeltsysteme der Zukunft aussehen? Der Weg scheint ja wegzuführen von der Stechuhr oder der Bewertung von Anwesenheitszeiten. Aber bei jenen Aufgaben, die nicht automatisiert werden, dürfte es sich gerade um „weiche“ Themen handeln wie Entwicklung, Koordination, Projektmanagement oder Kommunikation – deren Ergebnisse schwer zu messen sind.
Es wird bei der Beurteilung von Mitarbeitern verstärkt auf die qualitative Bewertung der Wahrnehmung von Verantwortung ankommen, beispielsweise: sind Projekte fachlich und zeitlich gelungen, herrscht ein offenes Kommunikationsklima, gibt es weniger Störungen oder Missverständnisse. Die Vergütung erfolgt global und zeitabhängig – als Monats- oder Jahresentgelt – und wird gegebenenfalls ergänzt durch Jahresboni oder Erfolgsbeteiligung, aber weniger durch unmittelbare Leistungsentgelte, etwa im Sinne eines Akkordlohns.
Wie wird der einzelne Mitarbeiter erkennen können, ob er „genug“ für sein Gehalt geleistet hat, wenn sich Arbeit und Freizeit immer stärker vermischen?
Das ist auch jetzt schon nicht einfach. Physische Präsenz und Zeitabsitzen reichen nicht aus, sondern es stellt sich immer die Frage, ob jemand hinsichtlich Arbeitsintensität, Aufmerksamkeit, Lernwillen, Kooperation und weiterer Aspekte genügend beigetragen hat. Das gilt auch für die Welt, in der Arbeit und Freizeit entgrenzt sind, wenn man unterstellt, dass die oben erwähnte Souveränität beispielsweise hinsichtlich Pausen oder Erholung erreicht ist.
Was wird die Gestaltung der künftigen Arbeitswelt prägen: Die Wünsche der Arbeitnehmer oder die Möglichkeiten und Anforderungen der Digitalisierung?
Auf längere Sicht ganz klar die Wünsche der Arbeitnehmer, die schon jetzt stark in die Richtung von mehr Flexibilität und Selbstbestimmung sowie intelligente Unterstützung durch die digitalen Systeme weisen. Denn nur eine menschen- und aufgabengerechte Arbeitsgestaltung kann die erwünschte Produktivität hervorbringen. Kurzfristig kann es zu Friktionen oder Konflikten kommen, wenn die plötzliche Einführung einer neuen Technik – etwa Überwachungskameras am Arbeitsplatz oder Verhaltenskontrolle über Auswertung von Logfile- und anderen Daten – gesellschaftliche Widerstände hervorruft, die insbesondere dann korrigiert werden, wenn die Arbeitnehmer über ausreichende organisierte Macht sowie über eine gewisse Knappheitsposition verfügen.
In Ihren Prognosen zur künftigen Arbeitswelt gehen Sie von einem wachsenden Anteil von Freelancern aus, mit denen Unternehmen punktuell zusammenarbeiten, weil beispielsweise je nach Projekt wechselndes Know-how benötigt wird. Was bedeutet das für die Sozialversicherungssysteme?
Die sozialen Sicherungssysteme werden sich nicht mehr primär auf das klassische Arbeitsverhältnis stützen können, wenn der Anteil freiberuflicher Tätigkeiten deutlich zunimmt. Es ist zu empfehlen, die Sozialabgaben in angemessener Weise auf alle Einkunftsarten zu erheben, so wie es etwa in der Schweiz seit langem gemacht wird.
(Prof. Arnold Picot (70) leitet seit 1988 das Institut für Information, Organisation und Management an der Fakultät für Betriebswirtschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Für den IT-Gipfel der Bundesregierung im Oktober 2014 verfasste er das Papier „Arbeit in der digitalen Welt“.)