Von wegen Heimspiel mit Gewinngarantie: Hatten die deutschen Autobauer früher auf der IAA in Frankfurt noch gut lachen, müssen sie in München nun schon zum zweiten Mal gute Miene zum bösen Spiel machen. Und diesmal sind es nicht nur die Angst vor den Klimaklebern und das eigenwillige Veranstaltungskonzept mit dem spießigen und stimmungsarmen Summit draußen in Riem und dem bunten Treiben auf den „Open Spaces“ in den Partymeilen der Stadt, die zur Eröffnung auf die Stimmung drücken. Sondern es sind vor allem die Player aus China, die den Gastgebern in die Parade fahren: Zahlreich wie nie und obendrein ungeheuer selbstbewusst, führen sie die früher ach so siegessichere Heimmannschaft vor und stehlen ihr mit Marken die Schau, die man kaum aussprechen, geschweige denn sich merken kann. Branchenkenner Ferdinand Dudenhöffer orakelt deshalb schon von der IAA der Chinesen und die Analysten mahnen vor dem großen Markensterben angesichts der Übermacht aus Fernost.
Es sind dann auch anders als früher nicht die Testwagen aus Wolfsburg oder Stuttgart, die das Straßenbild prägen. Sondern es sind Nio, BYD oder noch weithin unbekannte Marken wie Voyah, Xpeng, BYD, Zeekr, Yoyo, Denza oder Leapmotor, die auf den Ständen und in der Stadt die Blicke fangen.
Während VW seinen ID.7 zum Beispiel noch immer nur getarnt zeigt, bringt BYD mit dem Seal gerade einen veritablen Tesla-Fighter an den Start, der zu Preisen in der Mitte der 40.000er über 700 Kilometer Reichweite bietet und mit seinen Blade-Zellen obendrein die modernere Batterie hat.
Diese Modelle zeigen die Hersteller auf der IAA
Die IAA wird zum Showdown zwischen den deutschen und den chinesischen PS-Giganten. Hersteller anderer Länder sind kaum vertreten - mit einer prominenten Ausnahme.

BMW verspricht für seine Neue Klasse mehr Reichweite und kürzere Ladezeiten.
HiPhi X und Z lassen mit programmierbaren Displays und LED-Szenarien die Lichtspiele des nagelneuen Audi Q6 schon wieder ziemlich alt aussehen und Denza beweist mit dem Luxus-Van D9, dass der chinesische Joint-Venture-Partner von Mercedes längst die bessere V-Klasse baut - mit mehr Luxus, mehr Leistung und den größeren Akkus.
Doch die deutschen Autobauer geben sich nicht kampflos geschlagen. Ja, Audis Hoffnungsträger Q6 lässt weiter auf sich warten und steht deshalb nur als Erlkönige auf dem Summit. Und Ford zeigt in der Stadt statt eines eigenen Innovationsträgers nur einen zum Explorer umgebauten VW ID. Doch zumindest BMW und Mercedes wollen die Deutungshoheit über die Zukunft des Autos zurückerobern und zeigen entsprechend wegweisende Studien, die dennoch viel Bodenhaftung haben. Denn sowohl die Neue Klasse aus München als auch das Concept CLA aus Stuttgart gehen nächstes Jahr in Serie und kommen 2025 in den Handel. Und hier wie dort geht es nicht nur um ein Modell, sondern eine ganze Familie. Bei BMW ist von mindestens sechs Autos in schneller Folge die Rede - beginnend mit einem Nachfolger des X3 und dem nächsten Dreier. Und bei Mercedes ist der von Effizienz-Champion EQXX inspirierte CLA der Grundstein der neuen Kompaktklasse, zu der künftig noch ein Shooting Break und zwei Geländewagen zählen sollen.
Sowohl BMW als auch Mercedes nutzen dafür eine komplett neue Plattform, ein 800 Volt-Netzwerk und eine neue Elektronik-Architektur mit einem eigenen Betriebssystem - und beide wollen sie neue Maßstäbe in gleich mehreren Disziplinen setzen. BMW verspricht 30 Prozent mehr Reichweite, 30 Prozent schnelleres Laden, und 25 Prozent mehr Effizienz. Und Mercedes wird für den CLA noch konkreter: Ein Verbrauch von 12 kWh und eine Reichweite jenseits von 750 Kilometern sollen ihn zum Einliter-Auto der Generation E machen und wenn bei 250 kW Ladeleistung in 15 Minuten tatsächlich der Strom für 400 Kilometer fließt, wird der Akkuwechsel wie bei Nio so langsam hinfällig.

Mercedes-Chef Ola Källenius stellt den CLA Concept vor, der nur 12 kWh auf 100 Kilometern verbrauchen und so eine Reichweite von mehr als 750 Kilometern erzielen soll.
Wo BMW und Mercedes da in die gleiche Richtung marschieren, gehen sie innen einen komplett entgegengesetzten Kurs, selbst wenn die Elektronik mit dem jeweils ersten eigenen Betriebssystem vergleichbar ist: Im CLA wächst der Bildschirm jetzt auf die volle Fahrzeugbreite und den Kunden droht der digitale Overkill, die neue Klasse dagegen wird nüchtern und clean und bekommt stattdessen das erste Head-up-Display, dass über die volle Fensterbreite projiziert.
Aber es sind in München nicht nur die noblen Marken mit ihren Heerscharen von Forschen und Entwicklern, die für den Aufbruch in die Zukunft werben. Sondern selbst Opel hat sich mal wieder auf eine IAA getraut und dafür ein innovatives Showcar mitgebracht. „Experimental“ heißt die elektrische SUV-Coupé-Studie, die nicht nur eine neue Design-Sprache einführen soll, sondern zugleich das erste dezidierte Elektroauto der Hessen vorwegnimmt. Eine neue Plattform aus dem Stellantis-Konzern, die zwar nur mit 400 Volt arbeitet, dafür aber halbwegs bezahlbar sein soll und trotzdem Reichweiten von mehr als 700 Kilometer verspricht, steckt unter dem Cross-Over, dass tatsächlich Chancen auf die Serie hat und in der zweiten Hälfte der Dekade ausgerechnet als Manta seinen Einstand gibt.
Zu all den mehr oder minder fernen Visionen gibt es auch noch ein paar ganz greifbare Neuheiten, mit denen die Hersteller die Zeit des Wandels überbrücken wollen – mal elektrisch wie der überfällige neue Mini und sein großer Bruder Countryman oder der neue Renault Scenic als Familienkutsche für die Electric Avenue und mal konventionell wie die anderen Varianten des Countryman, die neunte Auflage des VW Passat oder das T-Modell der E-Klasse, das so etwas sein will wie die konservative Konstante in Zeiten der Unsicherheit.

Die Opel-Studie Experimental basiert auf einer Stellantis-Plattform.
Da die ambitionierten Chinesen im Angriffsmodus, hier die Heimspieler mit kreativer Verteidigung - gibt es eigentlich sonst noch wichtige Spieler bei dieser gar nicht mehr ganz so internationalen "Internationalen Automobilausstellung"? Aus Europa jedenfalls nicht, und aus Asien auch nicht. Denn keine andere Stellantis-Tochter ist nach München gekommen, kein Schwede und keine Briten. Und aus Japan oder Korea ist auch niemand dabei, obwohl doch gerade Hyundai und Kia einen gewaltigen Aufstieg hinter sich und eine Erfolgsstory zu erzählen haben.
Dafür allerdings gibt es einen Überraschungsgast aus Amerika: Nachdem Tesla in den letzten Jahren konsequent alle Automessen gemieden hat, sind die Kalifornier diesmal wieder mit dabei. Denn auch sie müssen mit dem Aufstieg der Chinesen um ihre Pfründe fürchten.
Aus dem Datencenter:

Seltener Gast: Tesla zeigt seine Fahrzeuge auf der IAA.