Zulieferer entwickeln Fahrwerke der nächsten Generation

München. Die Zulieferindustrie arbeitet mit Hochdruck an Fahrwerkskonzepten für hochautomatisiertes und später auch autonomes Fahren. "Über regelmäßige Entwicklungsgespräche mit den OEM stehen wir in regem Austausch zu neuen Fahrzeugkonzepten. Wir konzentrieren uns dabei auf technisch anspruchsvolle Fahrwerkskomponenten, die funktionsrelevant in das Gesamtsystem des Fahrzeugs integriert sind", erklärt beispielsweise Karsten Kroos, Leiter der Geschäftseinheit Komponenten-Technologie bei ThyssenKrupp.

"Konkret sprechen wir hier von der ganzen Bandbreite elektrisch unterstützter Lenksysteme (EPS) und der neuesten Generation der Stoßdämpfer aus dem Hause ThyssenKrupp. Mit der Weiterentwicklung dieser Systeme tragen wir dazu bei, stärker automatisiertes Fahren sicher und komfortabel auf die Straße zu bringen."

Für Christoph Elbers, Leiter Vorentwicklung und Fahrdynamik in der Division Pkw-Fahrwerktechnik bei ZF ist es hinsichtlich automatisierter Fahrfunktionen essentiell, "dass immer mehr Einzelsysteme vernetzt werden und im Regelverbund agieren". Dies betreffe sowohl das aktive Dämpfungssystem, die Lenkung und das Bremssystem als auch den Antrieb. "So haben wir bei der Entwicklung neuer Produkte schon heute weniger die einzelnen Komponenten im Blick, sondern vielmehr Funktionen, die den Endkunden und damit auch den Automobilherstellern einen Mehrwert bieten."

Für ihn spielt dabei Elektronik und Software eine immer wichtigere Rolle. Intelligente elektronische Regelsysteme würden bereits heute Fahrwerksysteme wie die aktive Hinterachslenkung AKC oder das adaptive Dämpfungssystem CDC steuern und erhöhen dadurch deutlich spürbar Fahrsicherheit, Dynamik und Komfort. "Diese Fahrwerksysteme werden künftig noch leistungsfähiger, wenn man sie mit Umfeldsensorik wie Radar, Lidar- und Kamerasystemen vernetzt", ist Elbers überzeugt.

Auf Basis dieser Informationen lässt sich für ihn beispielsweise die benötigte Dämpfkraft im Voraus berechnen und gezielt einstellen. Auch andere aktive Systeme wie die Wankstabilisierung könnten von solchen vorausschauenden Systemen profitieren und die Fahrt für die Insassen noch komfortabler und sicherer machen. "Zusätzliche Vernetzungen mit anderen Fahrzeugen und einer intelligenten Infrastruktur lassen weiteres Potenzial für das hochautomatisierte bis hin zum autonomen Fahren erschließen."

Beim Zulieferer Tenneco ist die elektronisch geregelte Fahrwerktechnik, bekannt als Monroe Intelligent Suspension, durch viele Sensoren mit dem Fahrzeug verbunden, die die Straßenbedingungen und die Fahrsituationen erfassen. Eine Verbindung zu den im Fahrzeug installierten Fahrerassistenzsystemen sorgt dabei dafür, dass das Fahrwerk mit der Fahrdynamikregelung (ESP, ABS) und der Antriebsregelung (Schaltung, Gas) zusammenarbeitet.

Der Fahrer kann dabei einen bevorzugten Modus einstellen, um mehr Komfort oder ein dynamisches Fahrerlebnis zu erzielen. "Die Eingaben vom Fahrer, den Sensoren und den Fahrerassistenzsystemen werden von der Fahrwerksregelung genutzt, um die Dämpfer automatisch und in Echtzeit einzustellen", erläutert Sandro Paparelli, der bei Tenneco den europäischen Fahrwerksbereich leitet.

So werde die Leistung des Fahrwerks zu jedem Zeitpunkt maximiert, abgestimmt mit der Regelungstechnik der anderen Fahrzeugsysteme, wodurch der Fahrer und die Passagiere ein "ausgezeichnetes Fahrerlebnis" in Punkto Komfort und Dynamik sowie ein verbessertes Sicherheitsgefühl beim Bremsen, bei Spurwechseln oder bei plötzlichen Ausweichmanövern vermittelt bekommen.

Tenneco verfügt über ein voll-aktives Fahrwerkssystem (ACOCAR), das aktiv die gesamte Bewegung des Fahrzeugaufbaus regeln kann. Diese Technologie stellt den ersten Schritt dazu dar, das autonome Fahren zu einem Erlebnis ähnlich einem "Fliegenden Teppich" zu machen, wobei die Passagiere losgelöst von nahezu allen Straßeneinflüssen Büroarbeiten erledigen oder einfach nur entspannen können.

"Beim hochautomatisierten Fahren wird es große Veränderungen in den heutigen Fahrwerkkonzepten und Fahrzeugarchitekturen geben", so die Überzeugung von Stefan Lüke, Leiter Fahrerassistenzsysteme & Automatisiertes Fahren in der Zukunftsentwicklung der Continental Division Chassis & Safety. Wenn die Fahraufgabe zukünftig beispielsweise komplett an das Auto delegiert werde, stelle das unter anderem an sicherheitsrelevante Systeme wie die Bremse neue Anforderungen.

"Es werden weitere Komponenten benötigt, die die vollständige Verfügbarkeit der elektronischen Bremse sicherstellen", Lüke weiter. So hat Continental mit der MK C1 eine für Fahrerassistenzeingriffe konzipierte Bremsanlage, die dynamischer, leichter und kompakter als konventionelle Bremssysteme ist, da sie bis zu 50 Prozent höhere Bremsdruckdynamik für Fahrerassistenzsysteme, wie Notbremsassistent, automatische Abstandsregelung und Fußgängerschutzsysteme liefert. Für diese Bremsanlage entwickelt der Zulieferer ein zusätzliches Modul, welches den Fahrer als Rückfallebene im automatisierten Fahrbetrieb ersetzen kann.

Als zentrales Steuergerät kann bei Continental die Chassis Domain Control Unit (CDCU) eine Hauptrolle bei der Vernetzung von elektronischen Fahrwerk- und Sicherheitssystemen übernehmen. "Die CDCU erhöht dabei den Funktionsumfang durch Vernetzung bislang isoliert arbeitender Systeme. Durch die zentrale Koordination der Eingriffs Entscheidungen harmonieren simultane Eingriffe in verschiedene Systeme optimal miteinander. Die CDCU ist für uns ein zentraler Baustein zur Implementierung der notwendigen funktionalen Sicherheitsarchitektur und zugleich Host für zentrale Umfeldbeschreibungen und Fahrfunktionen, die für das automatisierte Fahren benötigt werden", erklärt Lüke.

Die Umfeldsensierung und das daraus erstellte Umfeldmodell bleiben für Lüke der größte Aufwand beim automatisierten Fahren. Zu den Herausforderungen gehört die Reichweite, die bei Radar heute bis zu 300 Meter beträgt, bei der Kamera eher nur weniger 60 Meter. Objekte lassen sich mit dieser Technik zwar erkennen, aber eine Aussage, ob beispielsweise die eigene Fahrspur frei ist, ist damit für Autobahnfahrt noch nicht möglich.

Auch bei kleinen Objekten von weniger als 30 Zentimetern gelingt die Erkennung noch nicht zuverlässig. Eine weitere Herausforderung liegt in der Robustheit und Fehlertoleranz der Umfeldbeschreibung. "Die Antwort liegt in der Fusion mehrerer Sensorsignale, wie beispielsweise von Kamera, Radar und hochauflösenden, dynamischen Kartendaten", so Lüke.

Um ein hochautomatisiertes beziehungsweise autonomes Fahren zu ermöglichen, sind Aktoren erforderlich, die die notwendigen fahrdynamischen Änderungen bewirken, um das Fahrzeug zu führen, heißt es beim Entwicklungsdienstleister Bertrandt. Mindestens im Lenkungs- und im Bremssystem bilden Aktoren die Voraussetzung um (teil-)autonomes Fahren zu realisieren. "Darüber hinaus macht der Einsatz von adaptiven Dämpfern und einer aktiven Hinterachslenkung Sinn, um ein komfortableres Fahren zu realisieren", so Matthias Rühl, Fachbereichsleiter Powertrain bei Bertrandt.

Generell ist für Rühl eine genaue Erfassung des Fahrzeugumfelds notwendig, um autonom zu fahren. Dies geschieht über diverse Sensoren, die kamera-, laser- oder ultraschallbasiert arbeiten. Die Informationen dieser Sensoren werden im Anschluss fusioniert, um ein Gesamtbild der Fahrzeugumgebung zu erhalten. Auf dieser Basis könne eine mögliche Fahrzeug-Trajektorie vorausgesagt und berechnet werden, die anschließend über einen fahrzeugglobalen Ansatz von vernetzten Fahrwerkregelsystemen autonom umgesetzt wird.

"Ausgehend von unseren EPS-Lenksystemen beschäftigen wir uns intensiv mit Steer-by-Wire-Lösungen", so ThyssenKrupp-Manager Kroos zu aktuellen Entwicklungen die im Fahrwerksbereich vorangetrieben werden. „Das Lenken ohne durchgehende mechanische Verbindung ermöglicht völlig neue Lenk- und Fahrzeugkonzepte, stellt aber auch höchste Anforderungen an die Ausfallsicherheit, da die mechanische Rückfallebene fehlt“, so Kroos weiter.

Parallel dazu habe das Unternehmen bereits mehrere automatisiert fahrende Fahrzeuge als Versuchsträger aufgebaut und unter Realbedingungen getestet. "Das Ziel unserer Software-Ingenieure ist es, die Schnittstellen zwischen den visuellen Informationsquellen des Autos und unseren Lenksystemen besser zu verstehen und in die gemeinsame Entwicklung mit unseren Kunden einfließen zu lassen", erläutert Kroos. An diesem Wissen seien zunehmend auch die ganz neuen Spieler auf dem Mobilitätsmarkt interessiert.

Mit intelligenter Mechanik treibt ZF die Entwicklung in Richtung autonomes Fahren aktiv voran. „Größtmögliche Sicherheit in jeder Fahrsituation wird dabei noch wichtiger werden und eine neue Qualität bekommen“, ist Elbers überzeugt. "Denn erst wenn sich Autofahrer vollständig sicher fühlen, werden sie die Kontrolle über ihr Fahrzeug abgeben."

Die Anforderungen an Fahrerassistenzsysteme, und damit verbunden an die Leistungsfähigkeit der Umfelderkennung, Steuerung und Aktuatoren, werde in den kommenden Jahren daher immens wachsen. "Leistungsfähige Sensoren, komplexe elektronische Steuerungen und mechatronische Systeme müssen Fahrzeuge dazu befähigen zu sehen, zu denken und zu handeln", so Elbers weiter.

Die Basis für automatisierte Fahrfunktionen sind für Elbers aktive Sicherheitssysteme. Diese tragen in Notfallsituationen zum Schutz der Insassen und Verkehrsteilnehmer bei. "Die grundlegenden aktiven Sicherheitssysteme von ZF werden automatisierte Funktionen ermöglichen, wie automatisches Notbremsen oder Notausweichen." Grundlage dafür seien eine fortschrittliche Umgebungserkennung, robuste und redundante mechatronische Aktuatoren sowie komplexe elektronische Steuergeräte.

Zudem liefern Radar- und Kamerasysteme wichtige Informationen zur Fahrzeugumgebung, während das zentrale elektronische Steuergerät SED (Safety Domain ECU) die Sensordaten zusammenführt und als Integrationsplattform mit Fahrerassistenzsystemen, Lenkung, Bremsen, Antriebs- und Fahrwerksysteme kommuniziert.

"ZF entwickelt diese Funktionen schrittweise zu teil und schlussendlich vollautomatisierten Fahrfunktionen weiter", so Elbers. Erste Potenziale für die urbane Mobilität der Zukunft, die sich aus der intelligenten Vernetzung von Fahrwerk-, Antriebs- und Fahrerassistenzsystemen ergeben, zeigt das Unternehmen vom Bodensee mit dem rein elektrisch angetriebenen, teilautomatisiert fahrenden und in die Cloud vernetzten Konzeptfahrzeug Advanced Urban Vehicle.

Für Tenneco sind voll-aktive Fahrwerkssysteme viel mehr als Stoßdämpfer. Denn sie enthalten sehr komplexe Technologien wie Bewegungs-Aktuatoren, Antriebsaggregate zum Antrieben der Aktuatoren, Sensoren, die die Straße vor dem Fahrzeug scannen und die Bewegungen des Fahrzeugaufbaus messen, intelligente Algorithmen, die die vielen Sensordaten nutzen, um die Aktuatoren in Millisekunden anzutreiben.

"Diese komplexen Systeme neigen dazu, Energie in bedeutsamem Maße zu verbrauchen, weshalb Tenneco nach Wegen sucht, den Energieverbrauch zu senken", so Paparelli. Eine Lösung besteht darin, Energie aus dem Fahrwerk zurück zu gewinnen. Üblicherweise dämpft ein Fahrwerkssystem Vibrationen, indem es diese Energie in Wärme umwandelt. "Aber anstatt Hitze zu erzeugen, ist es möglich, die Energie in Elektrizität umzuwandeln, die vom Fahrwerk oder anderen Systemen im Fahrzeug genutzt werden kann", erläutert Paparelli.

Eine andere Technologie, die beim Zulieferer untersucht wird, ist die Verwendung optischer Sensoren zum Scannen der Straße vor dem Fahrzeug mit dem Ziel, die Regelung der Aktuatoren zu verbessern und dem Fahrzeug noch mehr Stabilität und Komfort zu verleihen.

Bei herkömmlicher Radar- und Lidar-Technologie sei die Geschwindigkeit der Bildverarbeitung der limitierende Faktor. Tenneco arbeite daher an Lösungen, die nicht von Umweltbedingungen (Nebel, Regen, Dämmerung) abhängig sind und die 3-D-Umgebung mit Millimeter-Genauigkeit digitalisieren, um eine verlässliche Datenquelle für die Fahrwerksregelung zu erhalten.