Continental wird in diesem Jahr 150 Jahre alt. Mit Gummibällen und Hufpuffern für Pferde fing das Unternehmen an, das heute zu den größten Reifenherstellern und Automobilzulieferen weltweit zählt. Continental-Vorstand Christian Kötz, 51, sprach mit der Automobilwoche über das Reifengeschäft in Pandemie-Zeiten, die digital vernetzten Pneus der Zukunft und das übergreifende Thema Nachhaltigkeit. Das Interview fand als Online-Gespräch statt. Man werde möglicherweise von hereinplatzenden Kindern oder Hunden gestört, warnte Kötz, doch das war überflüssig. Der Hausherr konnte völlig ungestört antworten.
Herr Kötz, Continental wird im Oktober 150 Jahre alt. Macht sich diese enorme Tradition im Alltagsgeschäft bemerkbar?
150 Jahre sind ein außergewöhnliches Jubiläum. Vom ersten Tag an war Continental eine Aktiengesellschaft. So stand von Anfang an Teamgeist an erster Stelle, keine Einzelperson. Das ist bei uns tief verankert. Intern ist das Jubiläum ein großer Motivator, manche Kolleginnen und Kollegen arbeiten in der dritten oder vierten Generation bei uns. Continental ist damit für viele Menschen mehr als ein Arbeitsplatz. Von außen betrachtet verdeutlicht das Jubiläum Solidität und Verlässlichkeit, für viele Kunden zudem eine langfristige Partnerschaft. Zugleich verfügen wir auch über eine enorme Erfahrungskompetenz. Die Kehrseite dieser langen Historie: Wir sind sehr innovationsfreudig, waren in der Vergangenheit aber nicht immer genauso veränderungsfreudig. Das hat sich geändert.
Continental fing, noch vor der Erfindung des Fahrradreifens, mit der Produktion von Gummibällen und Hufpuffern für Pferde an –heute geht es um vernetzte Reifen…
Ein Reifen an sich sieht von außen betrachtet seit Jahrzehnten nahezu gleich aus. Im Prinzip handelt es sich um eine rotierende Luftfeder. Technologie, Materialien und Herstellungsprozesse jedoch verändern sich ständig. Dazu deckt die Industrie die gesamte Wertschöpfungskette ab, die oftmals vom Gummibaum bis zum Endverbraucher reicht – und sogar noch darüber hinaus bis zur Wiederverwertung. Durch den Einzug der Digitalisierung in den Reifen steht jetzt eine weitere Veränderung an, aus der sich vollkommen neue Möglichkeiten ergeben. Neben der weiteren Optimierung von beispielsweise Bremsweg und Rollwiderstand bauen wir gerade ein Ökosystem smarter, digitaler Lösungen rund um unsere Premiumreifen. Indem wir die Reifen vernetzen, können wir unseren Kunden neue digitale Serviceangebote anbieten. Zum Beispiel helfen wir unseren Flottenkunden durch präzise Informationen über den Zustand ihrer Reifen, Betriebskosten zu senken und ihre Produktivität zu steigern.
Ausgerechnet im Jubiläumsjahr herrscht eine Pandemie. Können Sie trotzdem feiern?
Selbstverständlich können wir dieses besondere Jahr nicht ohne Jubiläumsfeier verstreichen lassen. Es ist allerdings sehr schade, dass diese Feier deutlich kleiner ausfallen muss als ursprünglich geplant. Wir werden im Oktober unser Jubiläum feiern und bereiten uns auf unterschiedliche Szenarien vor – je nachdem, wie die Corona-Situation dies zulassen wird.
Vor einem Jahr nannten Sie die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das Reifengeschäft "besorgniserregend". Wie schätzen Sie die Lage heute ein?
Insgesamt sind wir vorsichtig optimistisch. Mit Beginn der Corona-Pandemie wurde in vielen Teilen der Welt das gesamte Leben, und damit die Mobilität, zeitweise stark eingeschränkt. Wir mussten für kurze Zeit fast alle Reifenwerke schließen – das gab es nie zuvor. Frühere Krisen gingen auch nicht spurlos an uns vorbei, doch dieses Mal waren sowohl das Reifenersatz- als auch das Erstausrüstungsgeschäft betroffen. Wir gewinnen mittlerweile wieder Volumen, doch wie sich die Nachfrage langfristig entwickeln wird, ist heute noch nicht absehbar.
Ihre Strategie "Vision 2030" setzt auf Wachstum sowie auf Differenzierung durch Nachhaltigkeit und digitale Lösungen. Was heißt das konkret?
Für einen Premiumhersteller reicht es nicht mehr, sich allein auf sein Produkt zu verlassen. Wir entwickeln uns daher noch stärker von einer produkt- hin zu einer kundenorientierten Organisation. Ging es bislang eher um Pkw-, Lkw-, Zweirad- oder Traktor-Reifen, wird es künftig vor allem um maßgeschneiderte Lösungen für Flotten-, Privat-, Distributions- oder Erstausrüstungskunden gehen. Warum? Weil wir mehr Wert für den Kunden erzeugen müssen, um uns zu differenzieren. Hinzu kommen die Digitalisierung sowie unsere Nachhaltigkeitsaktivitäten, die wir in unserem Strategieprogramm ganz bewusst "Our Responsibility‘" nennen, weil wir davon überzeugt sind, dass Nachhaltigkeit unsere Verantwortung ist.
Continental will mit digitalen Reifenlösungen bis 2030 weltweit die Nummer eins werden. Was haben Sie im Köcher, um die Konkurrenz abzuhängen?
Wir wissen, dass das ein anspruchsvolles Ziel ist. Und wir wissen, dass auch unsere Wettbewerber in diese Richtung gehen –was wir als Ansporn sehen und als Bestätigung unserer Zielsetzung. Wir bieten unseren Kunden maßgeschneiderte Lösungen. Denn je nachdem, ob eine Flotte zum Beispiel im Distributions-, Baustellen-, Sharing- oder Landwirtschaftsbereich tätig ist, werden sehr unterschiedliche Lösungen benötigt. Zudem liegt unser Fokus darauf, das Automotive-Knowhow von Continental noch intensiver zu nutzen. Das hat kein anderer Reifenhersteller, das ist unser Vorteil. Wenn wir unser Alleinstellungsmerkmal nutzen, haben wir eine gute Chance, uns zur Nummer eins im Sinne der Technologieführerschaft zu entwickeln.
Beim Thema Nachhaltigkeit plant Continental, bis 2030 zum progressivsten Hersteller in der Reifenindustrie zu werden. Wie soll das gelingen?
Zunächst einmal geht es hier um unsere Ambition. Wir wollen Nachhaltigkeitsthemen aktiv, progressiv und innovativ angehen. Man muss ja selbstkritisch einräumen, dass viele Unternehmen über Jahrzehnte lediglich auf rechtliche Anforderungen reagiert haben. Wir wollen agieren. Das sieht man zum Beispiel an unserem Engagement, Naturkautschuk aus der Löwenzahnpflanze zu gewinnen und somit eine alternative Rohstoffquelle zu erschließen. Das hat niemand gefordert, aber wir packen es an und wir glauben daran. Es ist natürlich auch wichtig, in der Reifenproduktion weiterhin Abfallmenge, Wasser- und Energieverbrauch zu reduzieren. Da stehen wir schon gut da, aber es geht immer noch besser. Innovativ sein müssen und werden wir auch beim Thema nachhaltige Lieferketten, bei nachwachsenden oder recycelten Materialien und beim Thema Kreislaufwirtschaft. Es geht darum, Endprodukte künftig komplett in den Wertschöpfungsprozess zurückzuführen.
Spätestens 2050, proklamiert Continental, werde die gesamte Wertschöpfungskette klimaneutral sein. Was antworten Sie Menschen, die mehr Tempo beim Klimaschutz fordern?
Die Frage ist berechtigt und wir stellen uns dieser Forderung. Unser Ziel ist es natürlich, so schnell wie möglich Klimaneutralität zu erreichen. Aber es wäre heute weder ehrlich noch seriös, einen früheren Zeitpunkt zu nennen. Unsere Wertschöpfungskette ist vielstufig und sehr komplex, unsere direkten Einflussmöglichkeiten sind teilweise eher gering. Und es fehlen heute auch noch geeignete Technologien, um bestimmte Probleme abzustellen. Doch noch einmal: Wir streben an, so zügig wie möglich Klimaneutralität zu erreichen –spätestens bis 2050.
Bis vor kurzem wurde über viele Jahre die "Vision Zero", also Maßnahmen zur Unfallvermeidung, als Aushängeschild genutzt. Ist das nicht mehr aktuell?
"Safety first" wird immer und ohne Einschränkung unser Anspruch sein. Wir sehen uns daher verpflichtet, auch weiterhin daran zu arbeiten, die Zahl der Verletzten oder Toten im Straßenverkehr zu senken.
Sie sind als Vorstand auch verantwortlich für den konzernweiten Einkauf. Wie müssen sich die Lieferketten ändern, damit Nachhaltigkeit nicht nur ein wohlklingendes Schlagwort bleibt?
Bei den Lieferketten ist Transparenz für mich das Allerwichtigste. Denn erst wenn Transparenz herrscht, sind Probleme identifizier- und lösbar. Dazu kommt die Frage der Abhängigkeit von bestimmten Rohstoffquellen. Auch da spielt das Thema Nachhaltigkeit hinein, und auch in diesem Bereich arbeiten wir an innovativen Lösungen.
Es gibt ja das vom Bundesentwicklungsministerium unterstützte Projekt der elektronisch rückverfolgbaren Kautschuk-Lieferkette, das Continental im vergangenen Jahr etabliert hat. Wann wird diese Rückverfolgbarkeit für den gesamten Kautschuk-Bedarf von Continental etabliert sein?
Die angesprochene Transparenz gilt natürlich auch für Naturkautschuk. Das Projekt auf Borneo in Indonesien haben wir mit 450 beteiligten Kautschuk-Bauern begonnen, bis 2024 sollen es rund 4000 sein. Wir weiten unser Engagement also aus, durch Bildung und Digitalisierung für mehr Transparenz zu sorgen und sammeln so wichtige Erfahrungen. Heute können wir noch nicht hundertprozentig nachverfolgen, woher genau der von uns verwendete Naturkautschuk stammt. Wir arbeiten daher in verschiedenen Initiativen und Projekten intensiv daran, unserem Ziel der vollständigen Nachverfolgbarkeit kontinuierlich näher zu kommen.
Mit dem stagnierenden Reifenmarkt in Europa begründete Continental das Aus für das Reifen-Werk in Aachen bis spätestens Ende 2022. Sind weitere Maßnahmen geplant, um Überkapazitäten abzubauen?
Die Entscheidung, die Reifenproduktion in Aachen einzustellen, ist uns sehr schwergefallen. Wir hätten das nicht getan, wenn wir nicht davon überzeugt wären, dass wir die bestehenden Überkapazitäten in Europa abbauen müssen, denn die Nachfrage wird hier in den nächsten Jahren nicht steigen. Weitere Maßnahmen sind nicht geplant, aber natürlich beobachten wir ständig, wie sich die Märkte entwickeln und was das für uns bedeutet.
150 Jahre nach der Unternehmensgründung ist Continental drittgrößter Pkw- und viertgrößter Lkw-Reifenhersteller der Welt. Da wäre es nur logisch, für die Zukunft den Spitzenplatz anzustreben, oder?
Wir sind definitiv sehr ambitioniert und in den vergangenen zehn Jahren sehr gut vorangekommen. Unsere Umsätze haben sich in dieser Zeit verdoppelt, und wir haben uns von einem eher europäischen zu einem globalen Reifenhersteller entwickelt. Es gibt jedoch noch reichlich Wachstumspotenzial. Und insbesondere in der Reifenindustrie ist Größe relevant, denn die Skaleneffekte sind immens. Deshalb wollen wir uns in der Führungsgruppe der Reifenhersteller auch weiterhin behaupten und streben definitiv einen Platz auf dem Podium an.
Das Interview führte Jürgen Pander.
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