Pirelli-CEO Marco Tronchetti Provera steht seit bald 30 Jahren an der Spitze des Reifenherstellers. Er blickt zuversichtlich in die Zukunft und setzt auf High-Tech-Reifen, green economy und den Ausbau der Produktionskapazitäten.
Dottore, Premierminister Mario Draghi hat gerade seinen Plan für die Verwendung der Mittel des Europäischen Aufbauprogramm vorgestellt. Wie beurteilen Sie die Pläne?
Dieser Plan ist eine Verabredung mit der Geschichte, die man nicht verpassen sollte. Erstmals stellt Europa unserem Land Geld der europäischen Steuerzahler zur Verfügung. Dieses Geld kann man nicht verplempern. Draghi hat einen Plan mit soliden Inhalten präsentiert, auf dessen Basis Investitionen möglich sind. Wir haben eine Regierung, die in der Lage ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Wo liegen die Hauptprobleme Italiens?
Im Vergleich zu anderen Ländern ist Italiens Produktivität geringer. Aufgrund der Komplexität unseres Systems ist die Wirtschaft des Landes nicht gewachsen. Es braucht Investitionen in Infrastrukturen, eine Vereinfachung der Bürokratie und ein effizientes Zivil- und Strafrecht, um das ganze System produktiver zu machen.
Die Regeln und Verfahren in Italien müssen tiefgreifend vereinfacht werden, um die Ziele zu erreichen, die Ausführung der Projekte und ihre Realisierungszeiträume sicherzustellen.
Inwieweit profitiert Pirelli von diesem Plan?
Wir können vom Ausbau des 5G-Breitbandnetzes profitieren, sowohl im Hinblick auf die höhere Effizienz für das ganze System, die daraus entsteht, als auch im Hinblick auf unsere mit dem Netz verbundenen Reifen. Der andere Punkt ist die green economy. Wir sind dabei, neue und nachhaltige Technologien zu entwickeln und wir erwarten uns davon schnellere Prozesse, von denen wir alle in Europa profitieren. Diese Änderungen in der Politik stehen im Einklang mit unserer Strategie – sowohl was die Reduzierung der Umweltbelastung anbelangt als auch was den Übergang zur Elektrifizierung anbelangt.
Welche Position nimmt Pirelli im Markt ein?
Pirelli ist das am stärksten auf das obere Marktsegment ausgerichtete Unternehmen, auch im Hinblick auf Elektroautos. Dank unserer Technologie haben wir eine sehr starke Marktposition und sind der Hauptlieferant für die leistungsstärksten Modelle. Für die Herstellung von Reifen für Elektro-Autos braucht es technologische Kompetenzen, weil diese Fahrzeuge sehr viel stärker beschleunigen und die Reifen leichter sein müssen, damit die Reichweite der Fahrzeuge größer ist. Im Prestigesegment, also bei Marken wie Ferrari, Lamborghini, Maserati, Aston Martin und Bentley, haben wir einen Marktanteil von 50 Prozent.
Im Rahmen ihres neuen Strategieplans wollen Sie in den nächsten fünf Jahren zwei Milliarden Euro investieren! Wo liegen die Prioritäten?
Wir werden vor allem in Technologien und Projekte für die green technology investieren. Sie ist das grundlegende Element bei der Entwicklung noch ausgereifterer Produkte und Prozesse. Von 2023 an wollen wir auch unsere Produktionskapazität erhöhen, in China, Mexiko, Russland, Rumänien, aber auch in Italien – immer im oberen Marktsegment.
Wie steht Pirelli da?
Wir sind in dem resilientesten Marktsegment tätig, das vor der Krise am stärksten gewachsen ist und unter der Krise am wenigsten gelitten hat, weil der Wachstumseinbruch viel geringer war als bei anderen Produkten. Die Wachstumsaussichten für das obere Marktsegment sind auch dank neuer Segmente noch immer sehr positiv. Zu unseren Technologien gehören auch Sensoren, die Informationen in Echtzeit liefern.
Ihr Strategieplan ist ehrgeizig. Wo wollen Sie wachsen?
China und generell Asien wachsen weiter sehr stark, auch weil die Zahl der Fahrzeuge bezogen auf die Einwohner sehr gering ist und das obere Marktsegment stärker wächst. Auch die USA bieten ein enormes Wachstumspotenzial.
Und Deutschland?
Unter den deutschen Produzenten haben wir als Lieferant einen hohen Anteil. Deutschland ist das Herz des europäischen Marktes mit einer sehr ausgereiften Nachfrage und einer sehr bedeutenden Entwicklung von Elektrofahrzeugen. Und Deutschland nähert sich einem Anteil von einem Drittel an unserem europäischen Umsatz, der bei etwa 40 Prozent unseres Gesamtumsatzes liegt.
Die Automobilindustrie hat in Italien stark an Bedeutung verloren!
In Italien ist ein Know-How auf dem höchsten Niveau verblieben, beispielsweise im Bereich der Sportwagen um Modena mit Ferrari, Maserati, Lamborghini und Pagani. Da gibt es technologisches Know-how und ausgereifteste Kompetenzen in der Forschung auf dem höchsten Niveau. Und dann gibt es Stellantis und uns.
Sind sie an Übernahmen interessiert?
Dafür gibt es keine Notwendigkeit. Wir sind stark auf autonomes Wachstum konzentriert. Derzeit sehen wir nichts, aber wenn sich morgen Möglichkeiten ergäben, die wertschöpfend sind, wären wir, wie immer, offen dafür. Derzeit sehen wir aber weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene eine Möglichkeit, in der wir eine Steigerung der Wertschöpfung sehen.
Wie stellen Sie die Nachhaltigkeit Ihrer Produkte sicher?
Wir arbeiten stark mit mathematische Modellen, um immer nachhaltigere, gleichzeitig aber leistungsfähige Produkte zu anbieten zu können. Wir arbeiten daran, unsere Produkte immer umweltfreundlicher zu machen. Das gilt auch für die Fabriken. Wir arbeiten an Materialien und der technologischen Entwicklung. Dabei versuchen wir, natürliche und wiederverwendbare Rohstoffe auszuwählen. Wir recyceln Materialien in systematischer Weise.
Wie passt das mit ihrem Engagement als einziger Reifenlieferant der Formel 1 zusammen?
Die Formel 1 erlaubt es uns, sicherere Materialien in extremen Situationen zu erproben und Hybridmotoren, für die wir elektrische Komponenten entwickeln. Das ist ein Labor für die gesamte Autoindustrie, in dem es heute auch eine Entwicklung in Richtung Umweltfreundlichkeit gibt.
Ihr Großaktionär Chem China kontrolliert 37 Prozent des Kapitals. Mischen sich die Chinesen in die Unternehmenspolitik ein?
Es gibt keinerlei Einmischung in die Unternehmenspolitik. Wir haben ein Statut. Bevor unser Aktionär einstieg haben wir mit ihm Spielregeln vereinbart. Man kann beispielsweise unseren Firmensitz nur mit einer Mehrheit von 90 Prozent aus Mailand verlagern. Das gilt auch für die Forschung. Zehn Prozent des Kapitals gehören Camfin, dem historischen italienischen Aktionär von Pirelli, den ich über die MTP&C Spa kontrolliere. Die Rolle des Managements, das italienisch bleibt, und des Aktionärs sind klar definiert und getrennt.
Pirelli hat Giorgio Bruno zum neuen Co-CEO gemacht. Warum ihn?
Da wir einen sehr klaren Strategieplan und ein junges Management haben, brauchten wir eine erfahrene Person wie Giorgio Bruno, die auch Pirelli gut kennt. Er ist der beste Garant für Kontinuität, auch im Hinblick auf die Vorbereitung meiner Nachfolge 2023. Wir haben einen Plan für die Nachfolge, in dem ich die Aufgabe habe, mit Hilfe der Gesellschaft Spencer Stuart meinen Nachfolger auszuwählen.
Was machen Sie danach?
Ich bin seit 30 Jahren CEO und seit mehr als 35 Jahren Aktionär. Pirelli war immer Teil meines Lebens und wird es immer sein.
Sie sind einer der letzten emblematischen Manager Italiens. Gibt es eine neue Managergeneration?
Bei Pirelli gibt es bereits eine neue Generation, Giorgio Bruno ist ein Beispiel dafür. Und ich bin sicher, dass es auch in Italien eine neue geben wird.
Das Interview führte Gerhard Bläske.
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