Warum China für Audi zur zweiten Heimat geworden ist

Sein Portemonnaie hat Heinz-Willi Vassen schon seit Monaten nicht mehr aus der Tasche geholt. Seit der Entwickler im R&D-Center in Peking arbeitet, zahlt er nur noch digital: den Kaffee bei Starbucks, den Einkauf fürs Wochenende, das Benzin für den Dienstwagen oder die Parkgebühr. Dafür öffnet Vassen nur noch Apps wie „WeChat“ oder „Alipay“ und

bezahlt mit dem Smartphone.

Und das ist nur einer von vielen Unterschieden zur deutschen Heimat, die den Alltag im Reich der Mitte für den Entwickler so spannend machen – und seine Arbeit gleich mit.

Vassen leitet das „Electric/Elec­tronic Competence Center“ im Audi Research and Development (R&D)-Center Peking und muss dort sicherstellen, dass chinesische Kunden sich mit all ihren Wünschen und Gewohnheiten in den Audi-Modellen genauso wiederfinden und wohlfühlen wie Deutsche oder Amerikaner.

Erst recht, wenn sie mit ­einem Absatzanteil weit jenseits der 50 Prozent längst die größte Kundengruppe stellen und das Reich der Mitte so zur zweiten Heimat für die Bayern geworden ist. „Die sogenannte Connectivity, also die umfassende Vernetzung des gesamten Alltags, ist dabei eines der zentralen Themen“, sagt Vassen, „denn da lebt man in China in einer ganz anderen Welt mit ganz anderen Ansprüchen und Anforderungen.“

Diese Welt aus der Ferne zu durchdringen und zu verstehen, ist schwer. „Das Land lebt in einem rapiden Wandel. Stets kommen neue Kundengruppen hinzu – und damit wachsen auch neue Ansprüche. Von außen ist dieses Tempo kaum zu durchschauen“, sagt Vassens Chef Lorenz Führlinger und erklärt als Hausherr, weshalb Audi schon vor zehn Jahren ein

eigenes Entwicklungszentrum in China eröffnet hat: In direkter Nachbarschaft des inspirierenden wie international bekannten

Szeneviertels „798 Art District“ betreiben 370 Ingenieure, Entwickler und Programmierer Heimatkunde für Fortgeschrittene, hören intensiver in dieses Land hinein, als es von der Zentrale aus möglich wäre, und versuchen, ihre Botschaften in alle Phasen der Entstehung neuer Modelle zu integrieren, erläutert der Standortchef.

Lokale Anforderungen wie den Wunsch nach mehr Beinfreiheit im Fond, nach besonders großen Cupholdern für die allgegenwärtigen Teeflaschen, nach Luftreinhaltungs- oder Beduftungssystemen oder passenden Ablagen für die

unverzichtbaren Kleenex-Tücher – all das haben die Bayern längst gelernt und so weit wie möglich umgesetzt. Nicht umsonst zum Beispiel werden viele Modelle in und für China mit verlängertem Radstand gebaut.

Dafür hat die Digitalisierung eine Dynamik erlangt, die Männern wie Vassen bisweilen den Atem raubt. „Da ist China bei vielen Themen der Trendsetter“, sagt der Experte, der diesen vernetzten Lebensstil jetzt so weit wie möglich ins Auto bringen muss.

Im ersten Schritt geht es dabei vor allem um die Anpassung fertiger Systeme an die lokalen Gegebenheiten. Schließlich ist im Reich der Mitte alles anders: andere Normen, andere Technologien, andere Anbieter.

„Entertainment, Navigation, Kommunikation – in und für China muss ­alles neu gemacht werden“, sagt Vassen und nennt als besten Beweis das System MMI Touch, das dank seiner Kollegen viele Tausend chinesische Schriftzeichen lesen kann. „Wir nehmen den Baukasten aus Ingolstadt und ­machen das ­Infotainment fit für WeChat & Co.“, sagt Vassen.

Ein anderes Beispiel für eine ­lokale Anforderung, die in Ingolstadt nur Kopfschütteln auslöst, ist die Ziel­eingabe für die Navigation: ­Adressen sind in China kompliziert und oft nicht präzise. Also sind die so­genannten Points of Interest (POI) viel umfangreicher und ­exakter als im Westen. Und sie ­ändern sich schneller. So werden ­jedes Jahr acht der zehn Millionen POI-Einträge gelöscht oder erneuert. Das ist ein Datensatz, dem man erst einmal Herr werden muss

Aber das Team in Peking betreibt nicht nur Adaption und Applikation. Im zweiten Schritt sollen die Scouts in der Ferne wichtige Trends an die Zentrale zurückspielen und so den nötigen Input für globale Entwicklungen geben. Denn was heute in Peking oder Schanghai gang und gäbe ist, wird über kurz oder lang auch in Berlin oder Seattle auf der Tagesordnung stehen. Vassen: „Statt nur bestehende ­Systeme zu adaptieren, arbeiten wir deshalb von Peking aus auch ­intensiv an der Auslegung künftiger Architekturen mit und werden damit zu Spürnasen und Vorausdenkern für unsere Kollegen in der Zentrale.“

Augenmerk auf E-Autos Vassens Augenmerk gilt zudem der Elektromobilität und dem autonomen Fahren. Zwar sind das Themen, die auch anderenorts groß gespielt werden. Doch der Trend zum Akku-Auto sei nirgends größer und werde nirgends mit mehr Nachdruck gefordert und gefördert als in China, sagt Vassen. „Und wenn es um den Autopiloten fürs Auto geht, sind die politischen Rahmenbedingungen hier auch ein wenig anders.“ Denn um das ungehemmte Wachstum seiner Millionenstädte in den Griff zu ­bekommen, setzt der Staat viel stärker als der Rest der Welt auf Effizienzsteigerung durch die Automatisierung des Verkehrs und schafft dafür den nötigen Rahmen.

„Egal ob es um die Kommunikation der Fahrzeuge untereinander und mit der Infrastruktur geht oder um die entsprechenden Ausnahmegenehmigungen und Verkehrsregeln: Mit dem Stichwort „Smart City“ vor Augen und einer massiven Landflucht im Nacken treiben die Chinesen die Technologie ­vehement voran.

Dabei ist es nicht nur einmal mehr die Dynamik, die für Vassen den Unterschied macht, sondern auch die Kompromisslosigkeit, mit der China einem Ziel folgt: Während die Kollegen in Ingolstadt gerade erst damit anfangen, die Autos mit den Ampeln zu vernetzen und Navigation oder ACC entsprechend zu optimieren, werden in chinesischen Pilotprojekten bereits die ersten Fahrzeuge automatisch eingebremst, wenn sich variable Tempolimits ändern. Weil solch eine Vernetzung im Rest der Welt höchst umstritten, hier aber eine politische Vorgabe ist, wird auch das wieder zum Thema für die Truppe in China.

Vassen ist neben der Nähe zum Markt die Nähe zu wichtigen Partnern und möglichen Zulieferern wichtig. Denn egal ob für die digi­tale Lebenswelt, für das vernetzte Fahrzeug in der Smart City oder für das elektrifizierte Auto – für all ­diese Themen- und Technologie­felder habe sich in China längst ­eine extrem starke Industrie ­entwickelt,die man als Konkurrent beobachten, als Kooperations­partner ins Boot holen oder als ­Lieferant binden muss. Vassen: „Dahilftes enorm, wenn man in der gleichen Zeitzone unterwegs ist und denselben kulturellen ­Hintergrund hat.“

Wobei sie bei aller Fokussierung auf China in Audis R&D-Center schon eher auf Multikulti setzen. Das ­Personal dort stammt derzeit aus 13 Nationen, fast die Hälfte aller Mitarbeiter hat im Ausland studiert. Und über den Tellerrand hinaus schauen sieebenfalls: „Wir betreuen auch die Märkte in Korea, Japan und einpaar anderen asiatischen ­Staaten und haben deshalb Satel­liten zum Beispiel in Tokio und Taipeh.“

Auch von der Nähe zu vielen führenden Unternehmen in Branchen, die neu ins Geschäft mit der Mobilität drängen, können die Kollegen in der Zentrale mittelfristig profitieren. Davon sind sie in Peking überzeugt: Egal ob mit Batteriezellenherstellern wie CATL oder mit Internet-Giganten wie Baidu und Tencent trainieren sie in China ein Zusammenspiel, „das man dann auf den Rest des Globus ausrollen kann“, sagt Vassen. Beispiel CATL: Wenn das Unternehmen jetzt mit seiner ersten Akkufabrik nach Europa drängt, können die Kontakte aus Peking auf keinen Fall schaden.

Zwar ist China mit solchen Zukunftsthemen ziemlich weit vorn und deshalb bei den Elektronikern ganz oben auf der Agenda. Doch auch die anderen Disziplinen setzen auf die Kollegen aus dem coolen Backsteinbau am Rande des Künstlerviertels – wie die Designer: „Wir werden eine Dekade bekommen, in der die Designtrends sehr stark aus China bestimmt werden – so wie früher aus Europa, den USA oder aus Japan. Designinspiration entsteht meist dort, wo es Veränderung gibt“, ist sich Center-Leiter Führlinger sicher.

Schon jetzt ist Führlinger begeistert von den jungen chinesischen Gestaltern, die neben den ­Europäern im noch bescheidenen Design-Bereich von Audi in Peking arbeiten. „Sie kommen teilweise aus Familien, in denen es nicht einmal ein Auto gab. Und jetzt erarbeiten sie bereits Konzeptvorschläge, mit denen sie die Kollegen in Ingolstadt ziemlich beeindrucken.“

Die allumfängliche Vernetzung mit dem Auto als Teil einer digitalen Lebenswelt, die elektrische Mobilität, der Weg vom assistierten zum autonomen Fahren oder ein Design mit starken chinesischen Einflüssen – neben all diesen

Zukunftsthemen ist das R&D-Center im 751 D-Park im Pekinger Bezirk Chaoyang auch eine wichtige Größe für eine zeitlose Aufgabe: als Mittler für das gegenseitige ­Verständnis und den intensiven Austausch zwischen zwei völlig unterschiedlichen Gesellschaften und Kulturen. Auch das ist laut Führ­linger für den internationalen ­Erfolg unerlässlich.

Elektronikexperte Vassen hat das längst so verinnerlicht, dass er dafür mittlerweile bei der Stipp­visite in der alten Heimat umdenken muss: Wenn er nach Deutschland fliegt, muss er deshalb auf­passen, dass er auch ja sein Portemonnaie einsteckt.

Lesen Sie auch:

Wasserstoff, E-Fuels &Co: Audis Suche nach alternativen Kraftstoffen

Trump will Strafzölle auf China-Importe erhöhen

INTERVIEW - Audi-Technikvorstand Rothenpieler: "Nicht nur E-Auto, sondern E-Audi“

Aus dem Datencenter:

Modellvorschau für die Marke Audi von 2018 bis 2021