Ein Champion muss her

In der Via Giu­seppe Giacosa in Turin steht ein alter Palazzo. Am Eingang des Gebäudes begrüßt ein bemerkenswerter Satz den Besucher: "Um nicht Angst vor dem Neuen zu haben, muss man aus seinem Vokabular das Wort ,unmöglich‘ entfernen."

Der Satz stammt von Gianni Agnelli, dem Enkel des Fiat-Gründers Giovanni Agnelli senior. Dem heutigen Aufsichtsratsvorsitzenden von Fiat Chrysler Automobiles, John Elkann, erschien er so bedeutsam, dass er ihn am ­früheren Privathaus der Agnelli-Familie und dem Sitz der heutigen Fondazione Agnelli anbringen ließ.

Die Aufforderung des alten ­Agnelli zu mehr Mut gilt aber nicht nur für Fiat Chrysler, sondern auch für Carlos Tavares. "Wir brauchen keine Allianz", hatte der PSA-Vorstandschef noch im September auf der IAA erklärt. Eine Fusion mit FCA stehe nicht auf der Agenda. Auch ein Einstieg von PSA in den USA habe keine Priorität: "Ja, der nordamerikanische Markt fehlt uns. Aber der Aufbau dieses Markts isteine langfristige Auf­gabe und wird ein Thema für die nächste Management-Generation bei PSA sein."

Alles Nebelkerzen, wie inzwischen klar ist. Kenner der Pariser Szene gehen davon aus, dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron den erfolgreichen PSA-­Sanierer zu einer Ehe mit den ­Italo-Amerikanern drängte. Macron plädiert schon lange für einen europäischen oder besser noch globalen Champion mit französischer Beteiligung.

Die Vorteile dieser Verbindung liegen auf der Hand: Ein fusionierter Konzern PSA-FCA wäre mit einem Absatz von 8,7 Millionen Fahrzeugen pro Jahr, einem Gesamtumsatz von fast 184 Milliarden Euro und einem operativen Ergebnis von mehr als acht Milliarden Euro der viertgrößte Autokonzern der Welt.

Endlich würde PSA in Nordamerika stark verankert sein – mit absatzstarken Marken wie Chevrolet und Jeep. Das Projekt zum kostspieligen Launch der Marke Peugeot in den USA könnte ­getrost abgeblasen werden. Auch der Plan, mit Citroën inIndien Fuß zu fassen, könnte überdacht werden – womöglich ist Fiat für diesen Markt die ­geeignetere Marke. Nicht zuletzt geht es bei der Fusion um mehr Power in China – auch wenn dort beide Gruppen noch schwach sind und zusammen nur auf einen Marktanteil von 1,7 Prozent kommen.

Für FCA käme eine erfolgreiche Fusion einer Rettung gleich. Das Unternehmen lebt fast allein von den Erträgen seiner beiden US-Marken Jeep und Ram. 2018 legte der Absatz der Marke Jeep um zehn Prozent zu, Ram um 31, Dodge um 23 Prozent. Fiat dagegen sackte um mehr als 34 Prozent ab. Die Marke Lancia gilt als nicht internationalisierbar und dürfte in der neuen Gruppe ihr Leben aushauchen. Für die Marke Alfa Romeo interessierte sich schon der damalige VW-Chef Martin Winterkorn. Mit den modernen Plattformen und Motoren von PSA könnte sie eine interna­tionale Wiedergeburt erleben. Auch könnte die Überalterung der Fiat-Modelle mit PSA-Technologie gestoppt werden.

So überraschend die Pläne einer französisch-italienisch-amerikanischen Fusion aufkamen, so schnell soll es nun gehen. Tavares hat im französischen Radio bereits erklärt, er rechne mit kurzen Verhandlungen und sei zuversichtlich, in den kommenden Wochen eine bindende Vereinbarung schließen zu können. Er werde alle erforder­lichen Zugeständnisse machen, damit die EU-Kommission ihm keine Steine in den Weg legt.

Beide Konzerne rechnen mit Synergien von jährlich 3,7 Milliarden Euro, den Großteil davon aber erst vier Jahre nach dem Abschluss der Fusion. Glänzende Augen bekamen zumindest die Anleger von FCA: ­Ihre Aktie sprang um 8,2 Prozent nach oben. Die PSA-Anleger reagierten dagegen mit Skepsis auf die riskanten Pläne in unruhiger Zeit: Die ­Papiere verloren fast 13 Prozent.

Überwiegen die Chancen oder die Risiken? Wer gehört zu den Gewinnern, wer zu den Verlierern? Fest steht: Zusammen ­haben PSA und FCA in Europa viel zu große Fertigungs- und Entwicklungskapazitäten.

Zwar haben sich beide Unternehmen schon darauf verständigt, kein Werk zu schließen. Doch ob diese hehre Absicht die Fusionsgespräche übersteht, ist ungewiss. Zudem enthält das Versprechen keine Aussage über die Zahl der künftigen Mitarbeiter an den ­jeweiligen Standorten.

Das Beratungsunternehmen LMC Automotive beziffert die gemeinsamen Produktionskapazitäten von PSA und FCA in ­Europa auf fast 14 Millionen Einheiten. Jährlich werden aber nur rund sechs Millionen benötigt. Die Auslastung der ­europäischen PSA-Werke liegt bei 73 Prozent, die der FCA-Fabriken bei nur 43 Prozent. Als besonders stark bedrohte Produktionen sehen die Experten bei LMC Automotive das serbische Fiat-Werk Kragujevac und die beiden früheren Opel-Fabriken Ellesmere Port und ­Luton in Großbritannien.

PSA-Chef Tavares, der schon als neuer Vorstandsvorsitzender des fusionierten Unternehmens nominiert ist, wird sich also entscheiden müssen, wo er das größere Massaker anrichten will. ImHeimatland Frankreich wird dabei wohl kaum ein Blutstropfen fließen, das wird der französische Staat, der derzeit mit 14 Prozent an PSA beteiligt ist, zu verhindern wissen.

Auch Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer erwartet tiefe Einschnitte in der Fertigung und in der Entwicklung. "Kein Mensch braucht drei Entwicklungszen­tren – also Turin, Paris, Rüsselsheim. Kein Mensch braucht die ganzen Motorenwerke von FCA, PSA und Opel in Europa, und kein Mensch braucht die hohe Fiat-Fahrzeugkapazität."

Jürgen Pieper, langjähriger Auto­mobilanalyst bei der Privatbank Metzler, sieht beide Seiten der Medaille, betont aber die langfristigen Chancen: Tavares könne die komplexe Aufgabe ­gelingen. Der Portugiese habe schließlich schon bewiesen, dass er Probleme in vergleichsweise kurzer Zeit lösen könne. Pieper: "Tavares ist wahrscheinlich eines der größten ­Talente in der Industrie."

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