Elektroautos, autonomes Fahren – die ganze Autowelt schaut nur nach vorn. Wen interessiert da noch die Klassik, Herr Boucke?
Die Traditionspflege ist heute noch wichtiger als früher. In Zeiten, in denen sich der Wett-bewerb immer stärker annähert, braucht es weitergehende Differenzierungsmerkmale als Kofferraumgröße und Hubraum. Als Traditionssparte von Mercedes-Benz pflegen wir die Werte der Marke und zeigen, wo sie herkommt. Kein anderer Automobilhersteller kann auf eine über 130-jährige Historie zurückschauen – wir sind die Erfinder des Automobils und haben die Entwicklung in jeder Epoche geprägt. Das unterscheidet Mercedes-Benz vom Wettbewerb, und dieses Allstellungsmerkmal müssen wir mehr denn je hervor-heben.
Wenn das im Unternehmen einmal verstanden wurde, gibt es dann Wellen in der Wertschätzung? Erinnert man sich immer nur zu Jubiläen an die Historie?
Nur bei Produkt- und Unternehmensjubiläen aktiv zu werden, wäre für den Klassikbereich zu wenig. Uns geht es um mehr: Wir unterstützen im Unternehmen aktuelle wie auch zukünftige Themen, seien es Produkteinführungen oder Unternehmensanlässe. Classic kann immer einen Mehrwert liefern.
Welchen Stellenwert hat das Museum?
Das Museum genießt eine klare Sonderstellung. Keine andere Markenplattform bei Mercedes-Benz bringt jedes Jahr mehrere Hunderttausend Menschen dazu, sich freiwillig mit der Marke auseinandersetzen. Das Museum ist damit die größte Markenplattform, die das Unternehmen hat. Darüber hinaus betei-ligen wir uns aber auch an Rallyes und anderen Veranstaltungen. Diese Events sind für Mercedes-Benz Classic nicht minder wichtig. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass eine emotionale Bindung vor allem dann erzeugt wird, wenn man Automobilgeschichte fahrend erlebt.
Welchen Aufwand treiben Sie dafür?
Der Klassikbereich ist das Gedächtnis des Konzerns. Zum Glück wurde das bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Aufbau der Fahrzeugsammlung und 1936 mit der Gründung des Archivs erkannt, weshalb wir uns heute aus einem sehr großen Fundus bedienen können. Mit Stolz können wir nun behaupten, eines der größten Wirtschaftsarchive Europas zu besitzen. Die Zahlen sprechen für sich: 15 Regalkilometer, über 10.000 Filmdokumente, 4,5 Millionen Bilder und 15.000 Bände in der Archivbibliothek. Und die Fahrzeugsammlung umfasst derzeit rund 1100 Fahrzeuge, das aktuelle Ersatzteilsortiment 80.000 Positionen.
Das alles kostet viel Geld. Ist der Klassik-bereich nicht ein gewaltiger Kostenfaktor?
Die Hauptaufgabe des Klassikbereichs ist, Markenkommunikation zu betreiben – nach innen wie außen. Wie die meisten anderen Bereiche im Unternehmen besitzt aber auch Mercedes-Benz Classic ein Geschäftsmodell. Das fußt hauptsächlich auf der Ersatzteilversorgung. Unser Ersatzteilsortiment ist Benchmark, wurde bereits mehrfach ausgezeichnet und hat im vergangenen Jahr einen Umsatz von knapp 150 Millionen Euro erzielt. Außerdem restaurieren wir Fahrzeuge auch im Kundenauftrag. Unser jüngster Geschäftszweig ist der im Jahr 2015 ins Leben gerufene Fahrzeughandel „All Time Stars“.
Ab wann interessieren Sie sich denn für ein Auto?
15 Jahre nach Bandablauf einer Baureihe übernimmt die Klassikabteilung die Ersatzteilversorgung. Von einer umfassenden Ersatzteilversorgung kann man für Modelle ab Mitte der 50er-Jahre sprechen – ab dem W 198. Aber auch für gewisse Vorkriegsmodelle gibt es Ersatzteile beziehungsweise können diese nachgefertigt werden. Imposant ist die Ersatzteilversorgung für das erste Automobil der Welt von 1886, den Benz Patent-Motorwagen: Für dieses Automobil haben wir fast alle Verschleißteile auf Lager.