Die Automobilindustrie in Großbritannien steht mit dem Ende Oktober drohenden harten Brexit vor der größten Herausforderung seit ihrer Existenzkrise in den 70er-Jahren. Ausländische Hersteller drohen unverhohlen mit einem Abzug von Fertigungskapazitäten aus dem Vereinigten Königreich, die inländischen Hersteller – insbesondere Jaguar Land Rover – erleiden immer höhere Verluste und rechnen im schlimmsten Fall mit dem Herunterfahren mehrerer Werke.
„Ein No-Deal-Brexit stellt eine existenzielle Bedrohung für unsere Industrie dar“, warnte der Präsident des Industrieverbands Society of Motor Manufacturers and Traders (SMMT), Mike Hawes. Er reagierte damit auf den neuen britischen Regierungschef Boris Johnson, der erklärt hatte, das Land sei für einen „No Deal“ gewappnet. „Man kann niemals vorbereitet sein auf einen No Deal“, widersprach ihm Hawes. Europas Automobilindustrie würde unter Zollschranken und Handelshemmnissen enorm leiden, warnte er den neuen Premierminister.
57 Prozent aller in Großbritannien hergestellten Fahrzeuge wurden zuletzt in Länder der Europäischen Union exportiert, insgesamt werden sogar 80 Prozent exportiert. Im ersten Halbjahr sackte die Automobilfertigung in Großbritannien aufgrund der anhaltenden Unsicherheit auf 666.521 Fahrzeuge ab – ein Rückgang um ein Fünftel. Mehrere Zehntausend Jobs in der Branche gelten als gefährdet. Die britische Fahrzeugproduktion schrumpft nun schon seit 13 Monaten.
Nach Angaben des SMMT waren in der britischen Automobilindustrie zuletzt noch 168.000 Menschen beschäftigt. Im ersten Halbjahr brachen die Investitionen der Branche um 70 Prozent ein. Hersteller und Zulieferer müssen viel Geld in Notfallpläne stecken. Diese Beträge belaufen sich dem SMMT zufolge inzwischen auf umgerechnet 364 Millionen Euro.
Mehrere Hersteller erhöhten angesichts des nahenden Brexits ihre Warnungen vor einem „No Deal“. Der inzwischen ausgeschiedene BMW-Vorstandschef Harald Krüger sagte Anfang August, ein „No Deal“ sei ein „Lose-lose-Szenario“, also ein Ergebnis mit Verlierern auf beiden Seiten. An Johnson gerichtet sagte Krüger: „Hören Sie auf die Wirtschaft und hören Sie den Leuten zu. Sie müssen im Dialog mit der Wirtschaft stehen. Ich würde Herrn Johnson besuchen und ihm das auch persönlich sagen.“PSA-Vorstandschef Carlos Tavares sagte in einem Interview, er sei auf die Schließung des PSA-Werks in Ellesmere Port vorbereitet. Dort wird der Astra für Opel und Vauxhall gebaut. „Ich würde es bevorzugen, ihn lieber nach Ellesmere Port zu geben. Aber wenn die Bedingungen schlecht sind und ich die Produktion nicht profitabel gestalten kann, dann muss ich den Rest des Unternehmens davor schützen und werde es nicht tun“, so Tavares. PSA verfüge über geeignete alternative Standorte, sagte Tavares, ohne diese zu benennen.
Jüngst hatte PSA entschieden, den neuen Astra ab 2021 auch wieder im Opel-Stammwerk Rüsselsheim zu bauen. „Wir brauchen Vorhersehbarkeit in Bezug auf Zölle. Das ist alles. Um alles andere kümmern wir uns“, sagte der PSA-Chef.
Joe Hinrichs, der bei Ford für das gesamte globale Automobilgeschäft zuständig ist, warnte ebenfalls vor einem Brexit ohne klare Regeln. Ford allein habe bereits mehrere Millionen Dollar für Währungssicherung, Logistik und Vorsorgeplanungen ausgegeben, sagte Hinrichs. Dies sei im Grunde verschwendetes Geld. Ein harter Brexit könne Ford zwischen 500 Millionen und einer Milliarde Dollar kosten, rechnete der Ford-Manager vor.Toyotas Europa-Chef Johan van Zyl hatte schon zuvor gewarnt, dass Toyota bei einer dauerhaften Verschlechterung der Rahmenbedingungen seine Fertigung in Großbritannien womöglich einstellen müsse. „Eine Schließung würde dann auf der Agenda stehen“, hatte er zum Schicksal des Toyota-Werks in Burnaston gesagt. Dort wird seit wenigen Monaten der neue Corolla gebaut. Ein Modellwechsel steht 2023 an.
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