Herr Seehars, nach den Auseinandersetzungen um den Einstieg von Prevent bei Grammer und dem Abgang des Grammer-Vorstands ist es ruhiger geworden um das Unternehmen – auch langweiliger?
Es ist gut, dass es in der Wahrnehmung um Grammer ruhiger geworden ist! Gleichzeitig kann ich als neuer Vorstandsvorsitzender sagen, dass es eine spannende Aufgabe ist. Von Langeweile kann unabhängig von Corona nicht die Rede sein. Dank Ankeraktionär und stabiler Struktur gibt es jetzt ein ruhigeres Aktionärsumfeld, sodass wir uns wieder stärker auf das Kerngeschäft von Grammer und den weltweiten Ausbau unserer Aktivitäten fokussieren können.
Sie sprechen mit Ihren Hausbanken und der Kreditanstalt für Wiederaufbau über eine Erweiterung des Kreditrahmens. Wie weit sind Sie da?
Die Gespräche sind sehr weit fortgeschritten. Wir rechnen mit einem positiven Abschluss in den nächsten Wochen. Unser Vorteil ist, dass wir schon zu Beginn des Jahres unsere Finanzierungsstruktur verbessert und uns vorzeitig neu aufgestellt hatten. Es gab einige Kredite, die im vierten Quartal 2020 ausgelaufen wären. Von daher waren wir im Abschluss der Refinanzierung, die auch die Ausfinanzierung unserer TMD-Akquisition in den USA beinhaltet, bereits in guten Gesprächen mit unseren Hausbanken. Die Gespräche haben wir im Februar abgeschlossen und konnten jetzt darauf aufbauen. Mit einer weiteren Tranche und nicht einer kompletten Neuverhandlung unseres Kreditrahmens.
Wie viele Mitarbeiter sind bei Grammer in Kurzarbeit?
Im April und Mai waren es zwischen 60 und 95 Prozent in den Werken, die vor allem die europäischen Fahrzeughersteller bedienen. In den USA war es ähnlich. Aktuell sind deutlich weniger Mitarbeiter in Kurzarbeit. In China gibt es das Instrument der Kurzarbeit nicht. Da laufen die Werke seit dem zweiten Quartal jedoch auch wieder auf Volllast.
Jüngst haben einige Fahrzeughersteller den Abbau von Arbeitsplätzen angekündigt. Rechnen Sie auch für die Zulieferindustrie mit einer weiteren Entlassungswelle?
Ja, es wird wohl zu Anpassungen kommen müssen. Viele Experten erwarten ein grundsätzlich niedrigeres Absatzvolumen auch in den nächsten Jahren. Aber das wird die Branche sehr differenziert betreffen.
Können Sie das erläutern?
Zulieferer, die rein im Bereich Antriebsstrang unterwegs sind, werden wohl stärker darunter leiden. Es hängt auch davon ab, in welchem Segment die Kunden vertreten sind, und welchen Footprint der Zulieferer hat. Solche mit einem in den Regionen ausbalanciertem Portfolio wird es weniger treffen als Unternehmen, die einen stark europäischen oder nordamerikanischen Fokus haben.
Das heißt, für Grammer als Interieuranbieter sieht es besser aus?
Für uns bieten sich mit dem Trend zum autonomen Fahren, neuen Mobilitätskonzepten oder der Digitalisierung neue Chancen. Wir entwickeln unsere Interieur-Produkte unabhängig von der Antriebsart. Das Interieur wird immer stärker zum USP der Kunden. Für viele ist das Interieur das neue Exterieur. Wir sehen auch gute Chancen in China, wo wir bislang nur 15 Prozent unserer Umsätze realisieren. Neben dem Automotive-Geschäft entfällt bei Grammer ein Umsatzanteil von rund 30 Prozent auf die Nutzfahrzeugindustrie. Wir beliefern Truck- und Offroad-Hersteller, also Kunden im Agrarsegment, Baumaschinenhersteller sowie die Bus- und Bahnindustrie. Dadurch sind wir zyklisch sehr robust aufgestellt.
Befürchten Sie Entlassungen bei Grammer?
Wie in jedem anderen Unternehmen gibt es an einzelnen Standorten besondere Situationen, auf die wir lokal mit den Sozialpartnern eingehen. Durch die Beendigung von Leiharbeitsverträgen haben wir bereits im ersten Quartal unsere Beschäftigung angepasst. In den USA, wo es das Instrument der Kurzarbeit nicht gibt, gab es auch Entlassungen.
Um welche Aspekte müssen die Krisenpläne nach Corona ergänzt werden?
Der Unterschied zu den vorherigen Krisen ist bei Corona, dass es die Menschen ganz persönlich betrifft. In ihrem Leben und Arbeiten, vor allem jedoch in der Sorge um ihre Gesundheit. Klar ist auch, dass das mobile Arbeiten an Bedeutung gewinnt. Zudem wird es wichtiger, in Szenarien zu denken. Auf Vorstandsebene hatten wir bereits im vergangenen Jahr verschiedene Szenarien nach unseren Segmenten, Kunden und Regionen durchgeplant. Das hat uns geholfen, sehr schnell bei der Liquiditäts- und langfristigen Ergebnisplanung zu reagieren.
Sie haben insbesondere den regionalen Aspekt betont. Was meinen Sie damit?
Wir haben zum Glück frühzeitig eine regional gestärkte Organisation für Grammer aufgestellt, die schon seit Februar erfolgreich in China und in den Amerikas operativ ist. Aufgrund der Reiseeinschränkungen wären einige der Dinge nicht möglich gewesen, die wir nur durch mehr Eigenverantwortung vor Ort umsetzen konnten. Nehmen Sie allein das situative Herunter- und Hochfahren der Produktion. Unsere gestärkte Führung in den Regionen lässt Grammer zielgerichteter und schneller agieren.
Gibt es bestimmte Technologien, die nach der Corona-Krise stärker in den Fokus rücken?
Individualisierung ist das Zauberwort. Mobilitätsanbieter werden unterschiedliche Innenräume für unterschiedliche Kundengruppen konzipieren. Es wird modulare, variable Innenraum-Elemente geben, mit nachhaltigen Materialien, bei denen auch Recycling eine zunehmende Rolle spielt.
Haben die Regierungen die richtigen Signale gesetzt, um die Automobil- und Zulieferindustrie beim Hochlauf zu unterstützen oder wünschen Sie sich andere Maßnahmen?
Darauf gibt es keine weltweit einheitliche, nicht mal eine europäische Antwort. Ich sehe aber durchaus das Bemühen von Regierungen weltweit auf unterschiedlichste Weise die Wirtschaft zu stützen und für eine schnelle Belebung zu sorgen. Es gibt aber de facto Überkapazitäten in der Branche, so dass das ein oder andere Werk bei den Fahrzeugherstellern wohl geschlossen werden könnte.
Sind die Überkapazitäten in der Zulieferindustrie genauso hoch wie bei den Fahrzeugherstellern?
Aus meiner bisherigen Erfahrung nicht. Die Zulieferer haben schon immer etwas enger und flexibler kalkuliert. Das liegt auch daran, dass es bei den Zulieferern in der Regel kleinere Werke mit unterschiedlichen Produktionstechnologien gibt. Es gibt also insgesamt mehr Flexibilität als bei den sehr großen Werken der Fahrzeughersteller.
Wie sehr kann Ihnen Ihr Anteileigner Ningbo Jifeng dabei helfen, ihre Umsatzanteile in China auszubauen?
Durch Ningbo Jifeng erschließen wir uns ein tiefes Verständnis des chinesischen Marktes. Das ist für uns im Pkw- wie auch im Nutzfahrzeugbereich ein Türöffner, um bei lokalen Herstellern wie auch bei solchen, die ausländische Joint-Venture-Partner haben, weitere Aufträge zu gewinnen. Erst im November haben wir ein Joint Venture mit einem Tochterunternehmen von FAW gegründet, das uns zusätzliches Potenzial bei deren Eigenmarken eröffnet. Wir erhalten so auch Zugang zu anderen Joint-Venture-Partnern von FAW, die beispielsweise aus Japan kommen.
Im Nutzfahrzeugbereich verlief der Hochlauf bei Grammer sehr schnell. Welche Entwicklung erwarten Sie für das zweite Halbjahr?
Wir sehen das zweite Halbjahr für unser Geschäft in China sehr positiv. Zum einen, weil der chinesische Nutzfahrzeugmarkt anzieht. Zum anderen erwarten wir vom Anlauf unserer Sitze, die erstmals bei zwei chinesischen Truckherstellern zum Einsatz kommen, einen positiven Effekt. Insgesamt werden wir im Nutzfahrzeugbereich in China im Jahr 2020 sogar wachsen, weil wir durch die Neuanläufe Marktanteile hinzugewinnen. Die Regionen EMEA (Europa, Naher Osten und Afrika) und Amerikas bleiben herausfordernd.
Sie sind bei Komplettsitzen nicht im Pkw-Bereich unterwegs. Reizt Sie der Einstieg in dieses Geschäftsfeld?
Wir haben uns im Rahmen einer Konzeptstudie damit beschäftigt, insbesondere vor dem Hintergrund des autonomen Fahrens. Mit der pneumatischen Federung, die wir im Offroadbereich sehr erfolgreich vermarkten, haben wir viel Erfahrung und Ideen, um das Thema Reisekrankheit beim autonomen Fahren in den Griff zu bekommen. Als Anbieter von Komplettsitzen würde ich uns eher in einer Nische sehen. Unser Hauptfokus beim Sitz bleibt das Geschäft für die Nutzfahrzeugindustrie. Da sehen wir weltweit Chancen, unsere Position weiter auszubauen.
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