Herr Laier, was ist Ihnen bei der Übernahme von R.H. Sheppard wichtiger, der Marktzugang oder die technische Expertise?
Sicher die technische Expertise und die Marktposition von Sheppard. Wir haben in den USA mit Bendix den Marktführer für Bremssysteme schon seit 20 Jahren als Teil der Knorr-Bremse-Familie an Bord. Wir sind dort mit den Kunden im Truck- wie auch im Trailerbereich und mit den Flottenbetreibern sehr gut vernetzt. Die Kontakte, die wir durch Sheppard gewinnen, helfen zwar, aber den Marktzugang hatten wir auch vorher schon.
Was gewinnen Sie durch den Zukauf für das automatisierte Fahren?
Wir können jetzt ein integriertes Gesamtsystem anbieten und sind einer der führenden Hersteller am Markt. In Nordamerika gibt es bei der Lenkung sehr viele unterschiedliche Applikationen. Für uns ist der Zukauf der einfachere und schnellere Weg dort zu einer Marktdurchdringung zu kommen. Sonst hätten wir mit unserer schon existierenden Lenkung all diese Applikationen erst entwickeln müssen. Wenn wir jetzt die Sheppard-Lenkungen mit unserer Bremse und unserem Know-how im Bereich Fahrzeugdynamik zusammenbringen, können wir den Kunden sicherlich ein attraktives Gesamtsystem für die Fahrerassistenz und dann auch für das automatisierte Fahren bieten.
Sie konnten Sheppard von Wabco erwerben, weil das Unternehmen sich von seiner Lenkungssparte im Zuge der Akquisition von Wabco durch ZF trennen musste. Für Sie also ein Glückfall?
Für uns ist die Akquisition ein weiterer wichtiger Schritt in unserer Strategie ein weltweit führender Lieferant für Nutzfahrzeuge zu werden. Das Unternehmen passt strategisch hervorragend zu uns und ergänzt unsere Kompetenz im Bereich Lenkungssysteme auf dem nordamerikanischen Markt. Damit sind wir jetzt dort einer der beiden großen Lenkungslieferanten am Markt. Zusammen mit unserer Marktführerschaft bei der Bremssteuerung und im Bereich der Fahrerassistenz bei den großen nordamerikanischen OEMs bietet sich nun die Möglichkeit, unseren Kunden integrierte Systeme aus Bremssteuerung und Lenkung zur Verfügung zu stellen und erweiterte Funktionen der Fahrerassistenz und des automatisierten fahren anzubieten.
Sorgt die Corona-Pandemie dafür, dass Projekte rund um das Thema automatisiertes Fahren verschoben werden?
Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Natürlich bewerten unsere Kunden ihre Roadmaps und Prioritäten in solch einer Krise neu. Wir stellen bei einigen unserer europäischen Kunden genau diese Diskussion fest, die Sie gerade angesprochen haben. Doch in Nordamerika und insbesondere in Asien, dort wiederum vor allem in China, sehen wir einen ungebrochenen Trend zum automatisierten Fahren. Dabei geht es nicht darum, sofort von Los Angeles nach New York oder von Shanghai nach Peking automatisch fahren zu können.
Sondern?
Es geht darum, die Entwicklung zum automatisierten Fahren schrittweise nach vorne zu treiben und erste Anwendungen zu realisieren. Zunächst wird es wahrscheinlich automatisiertes Fahren im Nutzfahrzeug im sogenannten Hub-to-Hub Verkehr, also zum Beispiel auf fest definierten Routen zwischen zwei Logistik-Zentren sowie in nicht öffentlichen Bereichen wie Logistikhöfen oder Häfen geben. Zudem sehen wir eine anhaltende Entwicklung in Richtung neuer Funktionen im Bereich Fahrerassistenz bei denen auch die Lenkung als Aktuator wichtig ist. Neben dem Spurhalteassistenten sind das beispielsweise Manövrier- und Einparkhilfen bis hin zum Baustellenassistenten.
Knorr-Bremse arbeitet auch an Systemen, um mit der Bremse lenken zu können. Wo soll das eingesetzt werden?
Dabei geht es um ein sogenanntes Redundanzkonzept, wenn Fahrzeuge automatisiert bewegt werden. Das heißt, wenn einzelne sicherheitsrelevante Aktuatoren oder Komponenten im Fahrzeug ausfallen, muss das Fahrzeug trotzdem weiter sicher gehandhabt werden können. Man könnte natürlich alle sicherheitsrelevanten Komponenten doppelt einbauen, aber das kann und will niemand bezahlen. Bei dem von uns entwickelten System lässt sich das Fahrzeug, beim Ausfall der Überlagerungslenkung über die Bremse lenken und fährt mit geringerer Geschwindigkeit zum nächsten Parkplatz, der nächsten Autobahnausfahrt, oder zur nächsten Werkstatt.
Und wie wird dabei gelenkt?
Das geschieht über einen unterschiedlichen Druckaufbau in der Scheibenbremse an den einzelnen Rädern. Derzeit zeigen wir das unseren Kunden und arbeiten mit einigen an diesem Thema. Hierbei stellt sich zum einen die Frage, wie weit ein Fahrzeug weiter automatisiert bewegt werden muss, wenn die Lenkung ausfällt und zum anderen die Frage nach den Kosten. Und unsere Entwicklung ist ein kostengünstiger Lösungsansatz. Dass man mit einer Lenkung durch die Bremse nicht von Hamburg nach München fahren kann, ist klar.
Ist Ihre Entwicklung schon serienreif?
Funktional haben wir inzwischen nachweisen können, dass das geht. Jetzt sind wir mit den verschiedenen Kunden in Diskussionen. Denn es gibt unterschiedliche Anwendungsfälle und differierende Philosophien. Dementsprechend sind einige Kunden dem Thema gegenüber sehr aufgeschlossen, andere eher zurückhaltend. Wir gehen aber davon aus, dass es bei der Lenkbremse in den nächsten zwölf bis 18 Monaten zu ersten Entscheidungen kommt.
Sie wollen Marktführer beim automatisierten Fahren werden. Haben Sie das schon erreicht?
Derzeit sind wir im Bereich Nutzfahrzeuge Marktführer bei Fahrerassistenzsystemen und sehen das als eine gute Basis um einen ähnlichen Weg beim automatisierten Fahren zu gehen. Wann das genau sein wird, lässt sich jetzt noch nicht sagen. Das wird auf den einzelnen Märkten auch in unterschiedlicher Geschwindigkeit geschehen. Wir stehen in einem sehr guten Kontakt mit unseren Kunden insbesondere in Nordamerika und Asien, weil wir davon ausgehen, dass dort die Ersteinführung solcher Systeme stattfinden wird. Aber auch hier gibt es noch keine genauen Termine. Das wird aber sicherlich in den nächsten vier bis fünf Jahren geschehen.
Was passiert mit Ihrer zehnprozentigen Beteiligung am Wettbewerber Haldex?
Wir betrachten unsere Beteiligung an Haldex als reine Finanzinvestition und wie bei jeder Finanzinvestition sind wir daran interessiert, dass sich unsere Beteiligung gut entwickelt. Wir stellen diese in regelmäßigen Abständen immer wieder zur Prüfung, ob wir unsere Anteile verkaufen oder nicht. Sollte das der Fall sein, werden wir zu gegebenem Zeitpunkt darüber informieren.
Wollen Sie weiter zukaufen?
Neben organischem Wachstum haben bei uns Akquisitionen immer eine Rolle gespielt. Die Akquisition und Integration von Unternehmen sehen wir als unsere Kernkompetenz. Dementsprechend haben wir auch derzeit den Radar an. Natürlich schauen wir uns den Markt insbesondere auf der Nutzfahrzeugseite unter Berücksichtigung der Industrietrends an. Diese sind das automatisierte Fahren, Konnektivität, Emissionsreduktion, E-Mobilität und Verkehrssicherheit. Wenn etwas strategisch zu uns passt, haben wir Augen und Ohren offen.
Welche Pläne verfolgen Sie mit Ihrem Aftermarketgeschäft?
Das Aftermarket-Geschäft ist für uns von wesentlicher Bedeutung. Es soll schrittweise ausgebaut werden. Wir sind vor einigen Jahren zum Beispiel in die Wiederaufbereitung von Produkten eingestiegen. Das ist aus Umweltgesichtspunkten ein guter Ansatz und sinnvoll für die zeitwertgemäße Reparatur von Fahrzeugen. Zudem haben wir in Nordamerika damit begonnen, ein Retrofit-System im Bereich Fahrerassistenz anzubieten. Das läuft sehr erfolgreich.
Und was bieten Sie da an?
Fahrzeuge, die mit unserer Bremssteuerung ausgerüstet sind, können mit einem Fahrerassistenzsystem wie dem Notbremsassistent nachgerüstet werden. Wir rüsten die Fahrzeuge dafür mit den relevanten Sensoren und den jeweiligen Funktionen nach.
Welche Rolle spielt bei Ihnen das Thema Brennstoffzelle?
Eine indirekte. Wir beschäftigen uns mit elektromotorisch betriebenen Nutzfahrzeugen. Ich bin der festen Überzeugung, dass das kommen wird. Durch welche Art von Energiebereitstellung der E-Motor dann angetrieben wird, ob durch eine Brennstoffzelle oder durch eine Batterie, ist für uns zunächst sekundär. Und wir schauen natürlich, welche weiteren Möglichkeiten es gibt, um mit der E-Mobilität wachsen zu können. Dazu haben wir einen neuen Ansatz gewählt.
Können Sie das näher erläutern?
Wir haben mit dem sogenannten eCUBATOR, einen Inkubator gegründet. Wir ziehen gerade einen Pool aus circa 50 Ingenieuren zusammen, die in einer eigenen Umgebung Technologien untersuchen und entwickeln sollen, um unsere Kunden bei der E-Mobilisierung des Nutzfahrzeugs zu unterstützen.
Wollen Sie im Bereich Nutzfahrzeuge ihr Portfolio über die Kernbereiche Lenkung und Bremse hinaus erweitern?
Das durchdenken wir gerade. Aber auch hier gilt das Gleiche wie für Akquisitionen. Es muss für uns vom Systemansatz und technologisch passen und es muss von Kundenseite eine Nachfrage für eine solche Technologie vorhanden sein.
Lesen Sie auch:
Kopf der Woche - Heinz Hermann Thiele: Knorr-Bremse-Patriarch im Unruhestand
Nach Wabco-Übernahme: ZF trennt sich von R.H. Sheppard
Weiter keine Prognose: Knorr-Bremse bekommt Corona-Krise zu spüren
Dazu aus dem Datencenter:
Umfrage zum langfristigen Schaden der Autobranche durch das Coronavirus