Herr Schiefer, sind Sie ein glücklicher Mensch, weil Ihre Chips so begehrt sind, oder ein unglücklicher, weil Sie Ihre Kunden vertrösten müssen?
Zunächst einmal bin ich froh, dass wir in den vergangenen Jahren mit Lösungen für das elektrische und autonome Fahren unseren Fokus auf die Megatrends im Automobil gelegt haben. Wir haben aber auch bei den klassischen Anwendungen im Auto Marktanteile gewinnen können. Uns ist auch sehr wichtig, mit unseren Kunden partnerschaftlich zusammenarbeiten. Selbst wenn die Ware knapp ist, wie in der aktuellen Situation, gibt es uns die Möglichkeit durch Feinsteuerung und Optimierung der Lieferungen unsere Kunden bestmöglich zu unterstützen. Damit machen wir auch in diesen schwierigen Zeiten einen Unterschied.
Wo liegen die Schwerpunkte von Infineon im Automotivebereich?
Wir bieten die komplette Bandbreite an Halbleiterlösungen für das Auto. Durch den Zukauf von Cypress vor eineinhalb Jahren können wir nun alle Anwendungen im Auto bedienen, vom Antrieb über Infotainment bis Datensicherheit. Unser Spektrum umfasst Sensorik, Mikrocontroller, Leistungselektronik, Konnektivitätsbausteine und Sicherheitslösungen.
Gibt es Bereiche, die Sie aussparen?
Beim autonomen Fahren haben wir eine gute Produktpalette. Wir positionieren uns heute aber ganz klar nicht bei den Zentralrechnern, also dem Baustein für die Fahrberechnungen. In diesem Bereich gehen wir Partnerschaften ein, beispielsweise mit Nvidia, um ein Gesamtsystem zu entwickeln. Unsererseits decken wir den Bereich um den Zentralrechner ab. Dieser führt Fahrberechnungen durch, ersetzt jedoch nicht die Elektronik des Autos. Darunter und daneben braucht es noch eine ganze Reihe von Halbleiterlösungen: der Zentralrechner braucht zum Beispiel einen Companionchip für die funktionale Sicherheit im Auto. Dieser greift als Kontrollinstanz im Fehlerfall ein, um einen Unfall zu verhindern. Auch für grundlegende Fahrfunktionen wie Bremse, elektronische Lenkung oder auch Airbag bleiben separate elektronische Systeme bestehen.
Welche Chips fertigt Infineon selbst?
Produkte aus dem Sensorbereich und aus der Leistungselektronik fertigen wir überwiegend selbst. Dort liegen die Wettbewerbsvorteile sehr stark in der Fertigungstechnologie und im Produkt selbst. Bei den klassischen Mikrocontrollern findet die Differenzierung vornehmlich im Produkt statt. Für die Fertigung nutzen wir Standardtechnologien, die beispielsweise von Fertigungspartnern aus Taiwan angeboten werden. Da diese Technologien sehr teuer sind, muss man den Bedarf bündeln, um eine Fabrik zu füllen und profitabel zu produzieren. Produkte wie Mikrocontroller werden daher typischerweise bei Fertigungspartnern, den sogenannten Silicon Foundries, produziert.
Erwarten Sie, dass sich das verändert?
Die Halbleiterproduktion ist sehr kapitalintensiv und um Skaleneffekte zu realisieren, werden wir auch weiterhin auf Fertigungspartner setzen. Die aktuellen Diskussionen darüber die Fabriken in den verschiedenen Regionen der Welt anzusiedeln, ändern nichts am grundsätzlichen Geschäftsmodell.
Wie sehr kann KI bei der Entwicklung von Chips helfen?
Es gibt eine Reihe von Anwendungsfällen, die ich in die Kategorie Unterstützung einsortieren würde. Mit KI einen Chip komplett entwickeln zu lassen geht heute nicht. KI kann aber viele Einzelschritte im Rahmen der Chipentwicklung unterstützen und so einen Zeitgewinn oder eine Optimierung erreichen. Beispielsweise lassen sich iterative Prozesse wie Prüfung und Qualitätskontrolle durch KI optimieren.
Wie standardisiert sind Chips im Bereich Automotive?
Es gibt industrieübergreifende Standards wie beispielsweise Wi-Fi, die für ein Konsumgut ebenso gelten wie für ein Automobil. Das Auto hat jedoch anspruchsvollere Umfeldanforderungen und muss starke Temperaturschwankungen aushalten, so dass die Produkte für den automobilen Einsatz nach speziellen Qualitätskriterien geprüft und zertifiziert werden. In diesem Fall ist die Funktion als solches standardisiert, doch die Robustheit des Produktes macht den Unterschied. Daneben gibt es Produkte, die wir speziell für das Auto entwickeln, wie einen Mikrocontroller oder ein Leistungsmodul für den Antrieb eines Elektrofahrzeugs. Bei solchen Produkten kann man nicht mehr klassisch von einem Industriestandard sprechen, sondern von einem anwendungsspezifischen Produkt, das von mehreren Kunden genutzt werden kann. Die nächste Ausbaustufe wären kundenspezifische Bausteine. Dann würden entweder ein Fahrzeughersteller oder ein Zulieferer eine Spezifikation erstellen und der Halbleiterhersteller würde entlang der Spezifikation dieses kundenspezifische Produkt entwickeln und fertigen. Das ist dann quasi eine 1:1-Beziehung.
Wird man künftig mehr von diesen 1:1-Beziehungen sehen?
Das denke ich nicht. Wenn wir auf die letzte Dekade zurückblicken, zeichnet sich deutlich der Trend von den rein kundenspezifischen Bauelementen hin zu anwendungsspezifischen Lösungen ab. Es gibt zwar beim autonomen Fahren durchaus Beispiele, in denen der Fahrzeughersteller oder der Tier 1 selbst eine Funktion definiert oder spezifiziert. Das hängt aber damit zusammen, dass für eine bestimmte Aufgabe, beispielsweise KI, aus der Sicht solcher Unternehmen noch keine für sie optimale Hardwarelösung zur Verfügung steht. Sobald sich diese herauskristallisiert, kann es auch wieder zu Standardisierungen kommen. Es ist natürlich günstiger, wenn ein Bauelement für mehrere Kunden geeignet ist.
Welche Entwicklung sehen Sie bei den Themen E-Mobilität und autonomes Fahren?
Bei der E-Mobilität kann ich durch die Coronapandemie keine Abschwächung feststellen. Es gibt eine eindeutige Verstärkung des Trends zum elektrischen Fahren. Beim automatisierten Fahren hatte sich die Anfangseuphorie schon vor der Coronapandemie abgeschwächt. Die Entwicklungsaktivitäten wurden während der Pandemie weiter zurückgefahren. Hier müssen wir jedoch zwei Entwicklungen unterschieden. Fahrerassistenzsysteme für Level 1 und Level 2/2+ sind sehr gefragt und der Einsatz hat sich beschleunigt. Vollautomatisiertes Fahren nach Level 4/5 wird sich aus heutiger Sicht jedoch um ein paar Jahre nach hinten verschieben. Wir rechnen damit, dass wir um das Jahr 2030 weltweit etwa zweieinhalb Millionen Fahrzeuge nach Level 5 auf der Straße haben werden.
In welchen Bereichen erwarten Sie die Fahrzeuge?
Gute Einsatzmöglichkeiten sehe ich bei Fahrdiensten als Ersatz von Taxen, bei Lieferfahrzeugen und dem Nutzfahrzeugbereich. Bei LKW könnte man beispielsweise durch vollautonomes Fahren die Ruhezeiten des Fahrers anders handhaben. Das stellt einen großen finanziellen Anreiz dar. Die technische Umsetzung auf einem bestimmten Autobahnabschnitt oder einer Fahrspur ist zudem leichter als das autonome Fahren in der Altstadt. Auch interessant ist die Nutzung in abgegrenzten Bereichen, wie People-Mover an Flughäfen. Bei privat genutzten Pkw ist das Kosten-Nutzenverhältnis allerdings etwas schwieriger.
Wann wird sich der Chipmangel wieder normalisieren?
Die Nachfrage nach Halbleiter ist weltweit und über alle Branchen hinweg extrem hoch und übersteigt das Angebot deutlich. In Bezug auf unsere Automobilprodukte unterscheide ich zwei Bereiche. Bei Sensorik und Leistungselektronik, die wir selbst fertigen, sind wir sehr gut durch die erste Jahreshälfte 2021 gekommen. Und das, obwohl zu Beginn der Coronakrise nicht vorherzusehen war, dass die Bedarfe so schnell wieder ansteigen würden. Anders sah es in den letzten Wochen und Monaten bei den Produkten aus, die in Malaysia gefertigt werden. Hier waren wir mit coronabedingten Produktionseinschränkungen konfrontiert. Ich gehe davon aus, dass das verbleibende Jahr 2021 einfacher wird und wir in 2022 wieder zur Normalität zurückkehren. Anders sieht es bei Mikrocontrollern aus. Hier arbeiten wir mit Fertigungspartnern zusammen und der Aufbau neuer Kapazitäten beansprucht 12-18 Monate und mehr. In diesem Bereich werden die Allokationen noch weit in das Jahr 2022 andauern.
Wir haben sehr viel in den Aufbau eigener Kapazitäten investiert und die Investitionen auch angesichts der Coronapandemie kaum zurückgefahren. Im Gegenteil, nach der ersten Coronawelle haben wir die Ausgaben sogar noch einmal erhöht. Beispielsweise investieren wir 1,6 Milliarden Euro in unsere neue 300-Millimeter-Fertigung in Villach. Dort fertigen wir Leistungselektronik, unter anderem für das elektrische Fahren. Die Fabrik ist einsatzbereit, erste Wafer sind eingeschleust. Die Produktion läuft damit rund drei Monate früher als ursprünglich geplant an.
Was lässt sich aus der Chipkrise lernen?
Diese Frage wird aktuell wohl am meisten in der Industrie diskutiert. Ein Patentrezept gibt es nicht, jedoch verschiedene Ansatzpunkte. Eine langfristige, transparente Planung über die gesamte Lieferkette hinweg ist ein Element. Insbesondere auch im Hinblick auf den steigenden Anteil an Halbleitern im Automobil. Denn die Entscheidung für eine neue Halbleiterfabrik wird in der Regel fünf Jahre vor Produktionsbeginn getroffen. Beim Kapazitätsaufbau in einer bestehenden Fabrik beträgt die Vorlaufzeit relativ schnell 18 Monate und mehr. Das heißt, eine Bedarfsplanung über einen Zeitraum von 18 Monate wäre sehr hilfreich. Wünschenswert wäre auch mehr Verbindlichkeit in der Planung und im Bestellprozess.
Welche Unterschiede gibt es bei der Produktion verschiedener Halbleiter?
Insgesamt ist die Halbleiterproduktion sehr komplex und erfolgt an mehreren Standorten weltweit. Teilweise sind bis zu 1000 Arbeitsschritte nötig. Selbst bei einfachen Produkten dauert das in der Regel mindestens acht bis zehn Wochen. Bei komplexen Produkten sind durchaus auch fünf bis sechs Monate und mehr einzukalkulieren. Wenn die Bedarfe sprunghaft ansteigen und dann zum Teil auch Maschinen nachgekauft werden müssen, ist man sehr schnell wieder bei den genannten 18 Monaten. Das heißt, die Just-in-Time-Fertigung der Automobilindustrie und das komplexe Halbleitergeschäft lassen sich nicht direkt koppeln.
Was folgt daraus?
Wir brauchen Entkopplungsglieder, so genannte Pufferlager entlang der kompletten Lieferkette, um schon die normalen Schwankungen abfedern zu können. In Krisen wird dann häufig der Fehler begangen, bei sinkenden Bedarfen die Lager aufzulösen. Beim Wiederanlauf fehlen diese Puffer als Entkopplungsglied zwischen Just-in-time-Fertigung und Halbleiterherstellung. Die zwei Systeme passen dann nicht mehr gut zusammen.
Man muss jedoch auch sagen, dass bei der Anhäufung der Ereignisse der letzten Monate, angefangen bei der Pandemie über Wetterphänomene, die Verknappung zahlreicher Rohstoffe und auch Störungen bei der Seefracht, selbst gut gefüllte Pufferlager nicht mehr ausgereicht hätten.
Wer sind Ihre Abnehmer?
Der Großteil unserer Lieferbeziehungen findet mit den Tier 1 statt. Allerdings hat sich in den vergangenen zehn Jahren verändert, wie Komponenten und Systeme definiert werden. Heute besprechen wir strategische Themen sowie einen Teil der Entscheidungen direkt mit den Fahrzeugherstellern. Das hat den Vorteil, dass wir als Halbleiterhersteller sehr gut verstehen, in welche Richtung sich die Trends entwickeln und uns frühzeitig darauf vorbereiten können. Wir liefern dann zwar nach wie vor die Produkte an den Tier 1, aber bei der Definition der Produkte nutzen wir auch die Informationen der Fahrzeughersteller, um die Entwicklung zu beschleunigen und zur rechten Zeit die richtigen Produkte bereit zu halten.
Lesen Sie auch:
Mehr produzieren, Abhängigkeiten verringern: Altmaier will mehr Chip-Fabriken in Deutschland
Chipmangel: VW verlängert Kurzarbeit in mehreren Werken
Halbleitermangel: Infineon-Chef Ploss kündigt höhere Chip-Preise an
Dazu aus dem Datencenter: