William, Sie waren ein junger Unternehmer, als Sie Nio im Jahr 2014 gründeten. Was hat Sie zur Gründung bewogen?
Ich war Serienunternehmer und hatte eigene Internetfirmen und auch Automobil-Website-Firmen gegründet. Im Jahr 2000 eröffnete ich eine der ersten Automobil-Websites in China namens BitAuto. Von 2012 an haben mich dann Dinge dazu gebracht, über die Notwendigkeit zur Gründung eines Smart-EV-Unternehmens nachzudenken.
Welche waren das?
Es sind drei Gründe. Erstens geht es um den Klimawandel und die Umweltverschmutzung. Damals war die Luftverschmutzung in China ziemlich schlimm, und ich war gerade dabei, Vater zu werden. Ich war mir bewusst, dass ich etwas ändern muss. Zweitens sollten wir die aufkommenden smarten Technologien nutzen, um sie mit den Elektrofahrzeugen zu kombinieren. Und drittens ist mein Anliegen, den Nutzern einen besseren Service anzubieten. So kam ich auf die Idee, ein Unternehmen für smarte Elektrofahrzeuge zu gründen, das auch die Nutzer im Blick hat.
Aber Sie werden nicht nur an die Umwelt gedacht haben, sondern auch ans Geschäft. War es für Sie nicht ein Wagnis, in die sehr etablierte Autoindustrie einzusteigen?
Die Veränderungen, von denen ich sprach, betreffen nicht nur die Automobilindustrie allein. Es ist auch für den gesamten Energiesektor und die Technologiebranche ein Wandel. Es gibt also Möglichkeiten, die gesamte Wertschöpfungskette neu zu gestalten und umzustrukturieren. Und es gibt einen Wert, den wir schaffen können. Viele Leute haben die Rentabilität von Tesla in Frage gestellt, und Tesla hat bewiesen, dass es profitabel sein kann. Und das zeigt der Branche und der Öffentlichkeit, dass es einen Markt für intelligente Elektrofahrzeuge gibt.
Wie Sie haben es viele versucht. Zu einem bestimmten Zeitpunkt soll es mehr als 300 neue Start-up-Hersteller für Elektroautos in China gegeben haben. Aber nur wenige schafften den Durchbruch. Was ist der Unterschied?
In China sind viele innovative Start-ups entstanden, die alle ihren eigenen Charakter haben. Der Wettbewerb ist wirklich sehr hart. Vielleicht sind es nicht so viele Start-ups gewesen. Es sind aktuell meiner Meinung nach 20 bis 30, die nun tatsächlich ein echtes Produkt haben. Zudem gibt es etablierte Unternehmen, die ihre neuen Marken für Elektrofahrzeuge aufbauen, wie Geely oder SAIC. Sie haben auch ihre eigenen Marken für Elektrofahrzeuge etabliert. Darüber hinaus gibt es auch Tech-Giganten wie Xiaomi, Huawei oder Baidu, die ebenfalls in diesem Bereich tätig sind. Dieser Wettbewerb ist insgesamt für die gesamte Branche eine gute Sache.
Was machen Sie anders? Was ist das Alleinstellungsmerkmal von Nio im Vergleich zu all den anderen?
Ich kann Ihnen vier Wettbewerbsvorteile nennen. Der erste ist unsere wiederaufladbare, austauschbare und aufrüstbare Energielösung. Das bringt unseren Anwendern einen großen Nutzen. Unser zweiter Wettbewerbsvorteil sind unsere intelligenten Technologien. Vor kurzem haben wir unsere Technologieplattform NT2.0 eingeführt, das bedeutet hohe Rechenleistung und hochleistungsfähige Sensoreinheiten. Zurzeit arbeiten über 6000 Mitarbeiter speziell an den intelligenten Technologien. Das hilft uns auch dabei, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Produkte kontinuierlich zu verbessern. Der dritte Wettbewerbsvorteil ist unsere mechanische Leistung und unsere Verarbeitungsqualität. Was die Qualität anbelangt, so hat JD Power die Nio-Fahrzeuge als mit die besten Fahrzeuge unter allen intelligenten Elektrofahrzeugen bewertet. Und der letzte Punkt ist unser Konzept, Nutzergemeinschaften zu bilden und ein User-Unternehmen zu werden.
Sie wollen in etablierte Märkte mit eigenen Herstellern wie Deutschland und Frankreich einsteigen. Wird Europa für Sie eine harte Nuss sein?
Es gibt eine Menge großartiger Automobilunternehmen hier in Deutschland und auch in Europa. Mercedes-Benz, BMW und Audi – sie alle sind erfolgreiche Unternehmen, nicht nur in Europa, sondern auch in China. Wenn Sie sich das Verkaufsvolumen der Marken ansehen, haben wir noch einen langen Weg vor uns. Aber der chinesische Automobilmarkt ist der offenste Markt und der mit dem stärksten Wettbewerb, denn alle Automarken sind willkommen. Und wenn wir auf einem solchen Markt mit einem so harten Wettbewerb in China überleben können, dann haben wir auch auf anderen Märkten eine gute Chance zu überleben.
Wie viele Autos wollen Sie dieses Jahr weltweit ausliefern?
Wir nennen keine Zahlen, tut mir leid. Uns interessiert die Zufriedenheit der Kunden. Das ist erst einmal wichtig für uns. Mein Ziel für Europa ist, dass Nio in drei Jahren die Marke mit der höchsten Kundenzufriedenheit ist. Wir haben die Erwartungen unserer Nutzer bereits erfüllt und sogar übertroffen, aber in vielen anderen Bereichen haben wir noch einen langen Weg vor uns.
Aber Sie haben auch Investoren, die Zahlen sehen wollen. Die würden vielleicht gerne wissen, welche Steigerungen Sie in diesem und im nächsten Jahr erzielen. Können Sie uns vielleicht einen Prozentsatz für dieses Jahr nennen?
Für das laufende Jahr haben wir kein spezifisches Umsatzziel für den europäischen Markt festgelegt. Das Hauptziel für uns in diesem Jahr ist es, sicherzustellen, dass unser Servicesystem, unser ganzes Erfahrungssystem hier in Europa funktioniert und läuft. Dann können wir unseren Nutzern in Europa langfristig ein reibungsloses Erlebnis und einen reibungslosen Service bieten. Was den Aufbau eines Unternehmens in der Automobilindustrie angeht, ist es wie ein Marathonlauf auf einer schlammigen Strecke. Man wird nicht von heute auf morgen erfolgreich sein, und es dauert sehr lange, bis man sich allmählich etabliert. Deshalb habe ich mir für unsere globale Expansion oder für unsere Geschäftstätigkeit eigentlich ein klares Prinzip gesetzt, nämlich langfristiges Denken, gründliche Vorbereitung und auch viel Geduld. Und das ist auch unser Prinzip für den Markteintritt in Europa.
Meine Frage nach dem Zeitpunkt für einem möglichen Break-Even erübrigt sich dann…?
Was unseren Break-Even-Ziel angeht, so haben wir Gespräche mit dem Kapitalmarkt geführt. Und wenn Sie sich unsere Bruttomargenverbesserung ansehen, können Sie feststellen, dass wir bei den Fahrzeugen eine Bruttomarge von über 20 Prozent erzielt haben. Natürlich wurden unsere Marge und unser Umsatz in der ersten Jahreshälfte durch die steigenden Rohstoffkosten, vor allem bei den Batterien, leicht beeinträchtigt. Aber mit einer Bruttomarge von 20 Prozent können wir die Gemeinkosten bereits decken. Die andere Seite der Ausgaben sind die F&E-Aktivitäten. Wir haben uns stark für die Verbesserung unserer F&E engagiert und auch in unsere F&E-Aktivitäten investiert. Für das laufende Jahr wird dieser Betrag weiter steigen. Wir glauben, dass das Umsatzvolumen und auch unsere Bruttomarge das Plus unserer F&E-Investitionen übersteigen wird. Tesla hat 16 Jahre gebraucht, um profitabel zu werden. Wir glauben, dass wir keine 16 Jahre brauchen, um die Gewinnschwelle zu erreichen.
In den Medien werden Sie oft als der chinesische Elon Musk bezeichnet. Gefällt Ihnen dieser Vergleich?
Eigentlich sind Elon Musk und ich zwei völlig verschiedene Personen. Natürlich habe ich vollen Respekt vor Elon und auch vor dem Tesla-Team. Und wenn Sie viele unserer Nutzer fragen, die sowohl Tesla- als auch Nio-Autos besitzen, werden sie sagen, dass Tesla und Nio zwei völlig unterschiedliche Unternehmen sind, weil wir uns bei Nio nicht nur auf die Weiterentwicklung unserer Technologien, sondern auch auf den Service für unsere Nutzer konzentrieren. Deshalb verstehen wir uns als Anwenderunternehmen – weil wir Technologien einsetzen wollen, die unseren Anwendern einen besseren Service ermöglichen.
Sie stellen ausschließlich batteriebetriebene Elektroautos her. Haben Sie jemals über Wasserstoff nachgedacht?
Nein. Der Grund, warum wir uns auf die Herstellung von batterieelektrischen Fahrzeugen konzentrieren, ist, dass dies die ultimative Lösung für das smarte Elektrofahrzeug ist. Wenn es um die Nutzung intelligenter Technologien geht, werden batteriebetriebene Elektrofahrzeuge immer die beste Lösung sein. Alle anderen Zwischenlösungen oder Produkte werden das System nur verkomplizieren, denn mit intelligenten Technologien ist das EV-System bereits kompliziert genug. Außerdem glauben wir, dass das Auto zu einem mobilen Lebensraum wird, denn viele unserer Nutzer sitzen im Auto, auch wenn es geparkt ist, denn wir haben PanoCinema, wir haben Dolby Atmos, wir haben viele Erlebnisse mehr.
Zurück zu Europa. Sind Sie mit Ihrem Produktportfolio und mit Ihren Modellen zufrieden? Denn vielleicht wäre es ein Ziel für Sie, Kleinwagen zu produzieren, weil es in Europa einen Mangel an kleinen kompakten Elektroautos gibt. Aber Sie beginnen mit einer Premium-Limousine. Was denken Sie über Ihr Portfolio?
Wie Sie wissen, haben wir auf unserer Veranstaltung in Berlin drei Modelle enthüllt. ET7, das ist unsere mittelgroße Limousine auf der NT2.0-Plattform. Außerdem haben wir den ES7, unseren wichtigsten großen SUV, und den ET5, eine Mittelklasse-Limousine. Diese drei Modelle sind also sehr charakteristisch und auch in ihren eigenen Segmenten wettbewerbsfähig. Und natürlich wissen wir, dass es hier in Europa einen großen Bedarf an kleineren und kompakteren Autos gibt, vor allem in Ländern wie Frankreich, Italien oder Großbritannien. Wir haben einen Plan, ein kleineres und kompakteres Auto für diese Nutzer zu entwickeln. Wir untersuchen auch die Szenarien und die Anwendungsfälle dieser Nutzer in diesen Ländern, und wir werden das in unserem Portfolio-Plan haben, ein kleineres und kompakteres Auto.
Welche Learnings nehmen Sie mit aus diesen schwierigen Zeiten? Und haben Sie dazu einen Ratschlag?
Obwohl wir immer noch ein junges Start-up sind, haben wir schon einige Höhen und Tiefen und schwierige Zeiten durchgemacht, wie 2019 und 2020. Wir waren tatsächlich am Rande des Bankrotts. Und dann im Jahr 2020, als wir gerade wieder in Schwung gekommen waren, kam die COVID-19-Pandemie, die Lieferkettenkrise und die Probleme mit dem Chipmangel. Ich habe dazu zwei Ratschläge: Der erste ist, dass es in Zeiten der Unsicherheit für uns am wichtigsten ist, langfristig zu denken und langfristig das Richtige zu tun, denn viele Menschen werden in Zeiten der Unsicherheit kurzsichtiger. Und zweitens müssen wir uns auf die Maßnahmen konzentrieren. Als wir im Juli dieses Jahres den Tag der Partnerkonferenz abhielten, war ich der gleichen Meinung wie alle Partner der Lieferkette. Ich habe gesagt, dass es immer besser ist, etwas zu tun, zu handeln, als sich Sorgen zu machen.
Das Interview führte Burkhard Riering.
Aus dem Datencenter:
Entwicklung der reinen Elektroautos in Deutschland Januar 2020 bis Oktober 2022