Wie sich die Zulieferindustrie einschätzt

Die aktuelle Entwicklung zeigt, dass die Corona-Krise längst nicht ausgestanden ist. Viele Unternehmen haben mit erheblichen Umsatzeinbußen und Verlusten zu kämpfen. Doch bei allen Herausforderungen haben es viele Unternehmen in Deutschland geschafft, die Situation als Chance zu sehen und sich Vorteile im internationalen Wettbewerb zu erarbeiten, so ein Ergebnis einer Studie der internationalen UnternehmensberatungAlvarez & Marsal und der Deutschen Gesellschaft für Managementforschung (DGMF).

Für die unter der Leitung von Professor Christoph Wamser zwischen Juli und Oktober 2020 durchgeführten Untersuchung wurden Vorstände und führende Manager von 143 deutschen Industrieunternehmen danach befragt, wie sich die Firmen in der Corona-Krise im Wettbewerb behaupten konnten. Neben den relevanten DAX-Unternehmen bilden nicht börsennotierte Großunternehmen und der gehobene Mittelstand mit einem Jahresumsatz von mehr als einer Milliarde Euro den Schwerpunkt der Untersuchung. Die Gesprächspartner waren mehrheitlich Vorsitzende oder Mitglieder des Vorstands beziehungsweise der Geschäftsführung.

"36 der 143 geführten Interviews wurden im Automotivebereich geführt. Unter den Befragten befanden sich vor allem Vorstände von Automobilzulieferern", erklärt Andreas Knott, Turnaround- und Sanierungsexperte und Partner bei Alvarez & Marsal, im Gespräch mit der Automobilwoche. Die Automobilindustrie gehört für ihn zu den Branchen, die am meisten von der COVID-19-Pandemie betroffen ist.

Das überrascht zwar nicht. "Überraschend ist, dass im Automobilsegment nur 28 Prozent der Befragten glauben, dass sie die Krise als Chance genutzt haben. Das ist signifikant niedriger als in den anderen untersuchten Branchen. Zwar sind der Maschinenbau oder auch die Konsumgüterindustrie ähnlich stark betroffen, aber hier glauben viel mehr Befragte, dass sie die Krise als Chance nutzen."

Überrascht hat ihn vielmehr die Selbstreflektionsfähigkeit. "Mich verwundern nicht die 28 Prozent, sondern, dass die Interviewpartner sich selbst so kritisch einschätzen. Überraschend finde ich die 31 Prozent der Befragten aus der Automobilbranche, die angeben, dies nicht beurteilen zu können." Denn: "Derjenige, der sich einschätzen kann, der weiß wo er steht und was er tun kann, der verbessert sich auch entsprechend."

Einige Unternehmen hätten eine gewisse Zeit gebraucht, um das Ausmaß der Krise zu erkennen und handlungsfähig zu werden. "Wir haben zu Beginn schlecht miteinander kommuniziert. Einkauf, Produktion und Vertrieb haben wir nicht gut abgestimmt. Das hat uns Wettbewerbsfähigkeit gekostet", erklärte ein Geschäftsführer eines Automobilzulieferers.

Bei zwei von drei Unternehmen habe die Veränderungsbereitschaft in den ersten Monaten der Corona-Pandemie zugenommen. "Rund die Hälfte von ihnen bezeichnet den Willen zur Veränderung sogar als stark gestiegen", heißt es in der Studie. Der Veränderungswille habe sich dabei sich als eine notwendige Voraussetzung für die Stärkung der Wettbewerbsposition in der Krise gezeigt. Mit einer erhöhten Veränderungsbereitschaft von 78 Prozent hätten sich dabei die Gewinnerunternehmen deutlich von den Stabilisierern mit 55 Prozent und den Verlierern mit 25 Prozent abgehoben.

Insgesamt sei deutlich geworden, dass die Gewinnerunternehmen andere Prioritäten bei der Umsetzung von Maßnahmen setzen als die Stabilisierer und Verlierer, die in der Summe zu einer Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit führen. So hätten 73 Prozent der Gewinner ihr Geschäftsmodell in der Krise verändert, um die Ertragslage zu optimieren. Von den Stabilisierern sind es nur 40 Prozent, von den Verlierern 17 Prozent, so die Ergebnisse.

Tatsächlich müssten die Veränderungen des Geschäftsmodells wohlüberlegt und fein justiert werden. Das hätten die Einschätzungen zur Lieferkette gezeigt. Das zu Beginn der Pandemie oft kolportierte Ende der globalen Arbeitsteilung sei inzwischen einem differenzierteren Blick gewichen. "Gerade die Gewinner versuchen eine neue Balance zwischen den Kosten und Risiken sowie der Flexibilität einer regionalen oder europäischen und einer globalen Supply Chain zu finden", so Patrick Siebert, der für das internationale Beratungsunternehmen Alvarez & Marsal gemeinsam mit Philipp Ostermeier das deutsche Team für Corporate Transformation Services führt.

Der Druck der Krise habe auch zu einer enormen Beschleunigung der Digitalisierung geführt. 82 Prozent der Unternehmen schätzen die Bedeutung als hoch oder sehr hoch ein und machen die Digitalisierung damit aus ihrer Sicht zu der wichtigsten Einzelmaßnahme überhaupt, um in der Krise wettbewerbsfähig zu bleiben, so die Autoren. Und dies betreffe keineswegs nur die technische Organisation des Homeoffice. Die Digitalisierung beziehe sich viel umfassender auf Prozesse, Produkte und Geschäftsmodelle.

Doch die Chancen der Digitalisierung würden noch längst nicht von allen Unternehmen gleichermaßen genutzt. "Während 96 Prozent der Gewinner den Ausbau der Digitalisierung beschleunigt haben, waren dies auf Seiten der Stabilisierer nur 66 Prozent und sogar nur 29 Prozent in der Gruppe der Verlierer", so die Autoren.

Insbesondere auch für den Vertrieb habe Corona einen Umbruch markiert. "Der klassische persönliche Kontakt beim Kunden vor Ort war schlicht nicht mehr möglich", berichtet ein Vorstand eines Automobilzulieferers. Entgegen der Erwartungen haben die Kontakt- und Reisebeschränkungen den Kundenbeziehungen in der Regel aber nicht geschadet, diese sogar häufig gestärkt. 81 Prozent der Gewinner hätten die Optimierung der Kundenschnittstelle vorangetrieben, um Wettbewerbsvorteile zu erzielen. Auf Seiten der Stabilisierer waren dies nur 55 Prozent und bei den Verlierern sogar nur 29 Prozent. Die befragten Unternehmen rechnen für die Zukunft mit einem hybriden Modell, bei dem sich der persönliche Besuch vor Ort und die digitalen Kanäle ergänzen werden.

Die Unternehmen, die sich in der Studie als Wettbewerbsgewinner beschreiben, würden die Krise auch verstärkt nutzen, um sich für Fusionen oder Übernahmen in Stellung zu bringen. 53 Prozent der Gewinner führen ein systematisches Screening potenzieller Übernahmekandidaten durch. "Gesucht werden Unternehmen, die klar zur Stärkung der Kernbereiche beitragen und perspektivisch die Markt- und Wettbewerbsposition und Profitabilität weiter stärken und verbessern", erklärt Jürgen Zapf, Geschäftsführer von Alvarez & Marsal Deutschland. "Nicht selten soll durch eine Rückwärtsintegration, also die Übernahme eines Zulieferers, auch die Liefersicherheit erhöht werden", ergänzt Zapf.

In der Gruppe der Stabilisierer betrachten hingegen nur 20 Prozent der Unternehmen mögliche Targets, so ein weiteres Ergebnis der Studie. Die Krisenlogik sei hier stärker durch den Kostenabbau und Personalmaßnahmen geprägt. Doch der Markt ist in Bewegung. "Wir sehen aktuell eine größere Zahl von Carve-Outs nicht zentraler Bereiche in Vorbereitung, die aus der strategischen Überlegung zur Fokussierung resultieren", so Zapf. Krisenbedingt könnten durch diese Abspaltungen Unternehmensteile auf den Markt kommen, die für Wettbewerber zur Abrundung ihrer Aktivitäten einen attraktiven Zukauf darstellen. "In den vergangenen Wochen hat der Appetit der Marktteilnehmer, inklusive der Private-Equity-Firmen, deutlich zugenommen", erklärt der Deutschland-Geschäftsführer der Strukturierungsberatung.

Angesichts wegbrechender Umsätze sei die Senkung der Kosten und der Abbau personeller Überkapazitäten naheliegende Maßnahmen, um das Geschäft zu stabilisieren. Dementsprechend hätten mit 77 Prozent auch vor allem die Gruppe der Stabilisierer auf eine Reduzierung und Flexibilisierung der Material- und Lager- sowie weiterer Betriebskosten gesetzt. Stärker als die Stabilisierer hätten hingegen die Gewinner durch eine Optimierung der Kostenstruktur Mittel freizusetzen versucht, die sie direkt in Differenzierung und Wachstum investieren.

"Wenn die einzige Maßnahme darin besteht, Mitarbeiter zu entlassen und ein Werk zu schließen, dann gehört ein solches Unternehmen nicht zu den Gewinnern. Manchmal ist das im Sinne einer Symptom-Beseitigung vonnöten, aber es ist zu kurz gesprungen. Es ist viel wichtiger das Portfolio auf den Prüfstand zu stellen", erklärt Partner Knott. Eine Trennung von Unternehmensbereichen könne auch die Möglichkeit schaffen, Kapital und Ressourcen neu zuzuordnen. "Es gibt bei einigen Unternehmen große Programme, bei denen 20 Prozent der Arbeitsplätze abgebaut werden sollen, gleichzeitig aber auch ein Großteil der Ressourcen für Reinvestitionen in anderen Bereichen genutzt wird. Ein Problem gibt es bei den Unternehmen erst dann, wenn der Abbau von Arbeitsplätzen die primäre oder gar die einzige Reaktion auf die schwierige Situation ist."

Für einige der Stabilisierer ist oder war das Personal geradezu eine Last: "Wir haben erheblich Personal abgebaut", sagt der Finanzvorstand eines Automobilunternehmens. "Das ging relativ leicht. Sogar der Betriebsrat war kooperativ. Wenn wir ehrlich sind, haben wir die Krise auch genutzt, um einen längst überfälligen Personalabbau zu vollziehen." Dagegen sehe der Großteil der Gewinner die Führungskräfte und Mitarbeiter als wichtige Erfolgsfaktoren an.

Bei allen Unterschieden zwischen den Gewinnern, den Stabilisierern und den Verlierern, offenbart die Studie auch Gemeinsamkeiten im Umgang mit der Krise. Waren die Hygieneregeln umgesetzt und das Homeoffice für die Mitarbeiter organisiert, ging es zunächst vor allem um die Liquidität. "Die Sicherung des Cashflows war die erste Maßnahme, die wir angegangen sind", erklärte der Finanzvorstand eines Stahlunternehmens.

"Bei der Cashflow-Optimierung sticht die Automobilindustrie signifikant hervor. Das überrascht mich nicht, da wir es hier nicht mit den Fahrzeugherstellern zu tun haben, sondern vor allem mit den Zulieferern", so Knott. Viele der Zulieferer hätten auf der Liquiditätsseite eine dünne Decke. "Dementsprechend müssen sie hier viel tun."

Unter dem Strich falle diese Zwischenbilanz zur Wettbewerbsfähigkeit für den Industriestandort Deutschland zunächst positiv aus. In den kommenden Monaten werde es aber nun entscheidend sein, wie die Unternehmen die positiven Lerneffekte und die hohe Veränderungsbereitschaft, die auf den Leidensdruck in der akuten Corona-Krise zurückgehen, in ihrer Geschäftstätigkeit verstetigen können, bilanzieren die Autoren.

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