Natürlich - einige Start-up-Klischees erfüllt auch das Digital-Lab von Volkswagen: Es gibt eine Tischtennisplatte und eine Playstation, morgens wird gemeinsam gefrühstückt, mancher läuft auf Socken durch den Raum - viele Männer tragen Hipster-Bärte - und die Frauen, von denen es hier mehr gibt als in den meisten IT-Buden, tragen blau-grüne Haare. Natürlich herrscht Multi-Kulti, 14 Nationen wuseln durch den Raum. Arbeitssprache ist Englisch. Doch das VW-Lab, das seit 2015 in Berlin an der Spree residiert, auf diese wenigen Eindrücke zu reduzieren, wäre deutlich zu kurz gegriffen.
Für den VW-Konzern grenzt das, was hier entsteht an eine Revolution. Nicht nur, dass die Wolfsburger-Zentrale erkannt hat, dass die Zukunft des Autos nicht im Blech, sondern im Code of Lines liegt und nicht Hard- sondern Software über die Zukunftsfähigkeit des gesamten Konzerns bestimmen wird und daher aktuell 60 und bis in einem Jahr rund 100 Programmierer und Produkt-Entwickler beschäftigen will, die an Apps für den gesamten Konzern arbeiten.
Hier in Berlin probt Volkswagen neue Freiheitsgrade der Unternehmenskultur - um die es in der Vergangenheit nicht immer zum Besten stand. Manches davon wirkt auf den ersten Blick wie ein Rückschritt. Die festen Arbeitszeiten von 8.30 bis 17.30 Uhr zum Beispiel. Der Betriebsrat - ansonsten ein Bollwerk der Flexibilisierung - hat dem zugestimmt. Warum? Ganz einfach, weil es zum Arbeitsmodell der Software-Entwickler passt.
Denn in Berlin wird fix in Zweierteams gearbeitet. Einer schreibt am Software-Code, der andere steht dahinter und prüft, was der Kollege gerade getippt hat. Wenn einer um 9 Uhr, der andere erst um 11 Uhr ins Büro schlurft, funktioniert das so genannte "Pairing" natürlich nicht, also: feste Arbeitszeiten.
Nahezu bahnbrechend auch: Jeden morgen wird besprochen, was ansteht: Wer ist neu? Wo gibt es Probleme? Wer benötigt Unterstützung? Jeden Freitag zwischen 16 und 17 Uhr folgt die Manöverkritik. Was lief gut in der Woche? Was war okay? Was lief schlecht?
Das Digital Lab ist eine Ausgeburt moderner Feedback-Kultur. Wer hätte das im VW-Konzern vermutet. Und es geht noch weiter.
Das Pair-Programming, das VW hier mit dem US-IT-Dienstleister Pivotal, erprobt und perfektioniert wird - die Pivotal-Mitarbeiter werden übrigens nach und nach wieder abrücken, derzeit sind noch rund 20 beschäftigt - macht es notwendig, dass die Chemie zwischen den "Programmier-Pärchen" zu 100 Prozent stimmt.
Die Mitarbeiter entscheiden daher mit, wer eingestellt wird und wer nicht. 12 bis 14 Stunden investieren die Leiter des Labs für den Auswahlprozess eines einzigen Kandidaten. Lebenslauf, Video-Chat und schließlich Probearbeiten mit drei potenziellen Partnern für je zwei Stunden, eine fachspezifische Aufgabe, die es binnen einer Stunde zu lösen gilt und dann noch das Gespräch mit den Personalern. Die meisten scheitern am Pairing-Experiment.
Wer nicht ins Team passt, hat keine Chance auf einen Job - egal wie gut die fachliche Qualifikation ist. "Wenn alle drei potenziellen Partner den Daumen senken, ist der Kandidat raus", erklärt Stefan Gotthardt, Botschafter des Digital Lab Berlin. Auch seine Funktion ist außergewöhnlich.
Einen "Botschafter" hat bisher kein anderes VW-IT-Lab, von denen es insgesamt fünf gibt. Gotthardt ist halb Kommunikations-Mann, halb Recruiter und gleichzeitig zuständig für die lokale Vernetzung es Labs in Berlin. Dass er schon seit 2011 bei VW-Konzern arbeitet hat ihm geholfen, auch nach innen zu erklären, was das neue Lab soll und wie es arbeitet. Das kam nicht überall sofort gut an. Aber es gebe immer weniger Zweifler, meint Gotthardt und erzählt kurz darauf, wie sich Vorstände, die das Lab besuchen, freudig die Krawatte vom Hals reißen, das Jackett ablegen und sich über die ungezwungene und gleichzeitig professionell-produktive Atmosphäre im Lab freuen.
Noch arbeiten die rund 60 Mitarbeiter fast ausschließlich an IT-Produkten für die Fachbereiche - wie etwa den Vertrieb einer Marke - oder an Lösungen, die für den gesamten Konzern gedacht sind. In Zukunft soll ein Teil der Arbeit aber unabhängig von den Ideen der Fachbereiche entstehen, quasi auf der "grünen Wiese“, wie Gotthardt erklärt. "Denn helle Köpfe mit guten eigenen Ideen haben wir hier reichlich. Damit kommen wir der Bezeichnung „Lab“ aus technischer Perspektive auch deutlich näher", so der Lab-Botschafter.
Ein Projekt, das das Lab bereits umgesetzt hat, ist etwa die Auslieferung von Paketen in den Kofferraum von Fahrzeugen in Kooperation mit Paket-Dienst DHL. Aktuell wird unter anderem an einer übergreifenden ID gearbeitet, mit der Kunden auf alle Services innerhalb des VW-Konzerns zugreifen können, ohne sich dafür separat bei verschiedenen Marken anmelden zu müssen.
Hintergrund: VW unterhält aktuell fünf IT-Labs in Berlin, München (Data Lab) und Wolfsburg und über Tochter Audi in San Fransisco. Hier arbeiten Programmierer, Data Scientists, Design-Thinking-Experten und Cloud-Architekten an neuen IT-Lösungen zu den Themen Industrie 4.0, Big Data, Advanced Analytics, Maschinelles Lernen, Künstliche Intelligenz, Connectivity und dem Internet der Dinge.
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