Herr Leibfritz, wie schätzen Sie das Potenzial für sogenannte Nachbarschaftsautos ("Peer-2-Peer") ein?
Wenn man bedenkt, dass ein durchschnittlich genutztes Privatfahrzeug in Deutschland rund 95 Prozent der gesamten Zeit ungenutzt herumsteht, dann ist die Idee, ein Auto zwischen mehreren Nutzern zu teilen, zunächst einmal sehr gut. Wir beobachten allerdings, dass es in einigen Märkten noch Vorurteile gegenüber der Nutzung von geteilten Fahrzeugen gibt. Das hängt oft mit der Emotionalität, die dem eigenen Auto entgegengebracht wird, zusammen.Insofern erwarten wir ein stetiges Marktwachstum in diesem Segment – allerdings nicht ohne Herausforderungen. Für die nächsten Jahre gehen wir davon aus, dass sich einige wenige Anbieter am Markt etablieren werden. Mit einigen arbeitet die Allianz bereits heute zusammen, um dem "Nachbarschaftsauto" zu helfen, ein fester Bestandteil der urbanen Mobilität von morgen zu werden.
Es gibt ja neben dem nachbarschaftlichen Autoteilen auch die klassischen Free-Floating-Modelle wie bei Car2go, stationsbasierte Angebote wie bei Flinkster oder das "RideHailing"-Konzept wie bei Uber: Was wird sich denn durchsetzen?All diese modernen Mobilitätsformen bedienen aus Nutzersicht unterschiedliche Kundenbedarfe und leisten so bereits heute einen Beitrag zu einer veränderten Mobilitätslandschaft. Mit Kundenbedarfe ist dabei zum Beispiel der tägliche Arbeitsweg, der Transfer zum Flughafen, der wöchentliche Einkauf oder der Wochenendausflug gemeint.Während das Free-Floating-Carsharing insbesondere in Großstädten starken Zuwachs erfährt, können Peer-2-Peer- und stationsgebundene Angebote auch in Vorstädten, kleineren Städten oder sogar im ländlichen Raum Sinn machen. Der Fokus liegt aktuell aber noch klar auf Ballungszentren.
Mit Blick auf die Zukunftschancen der einzelnen Modelle wird es sicherlich spannend sein zu sehen, welche Anbieter die verschiedenen Kundenbedarfe am besten miteinander verbinden können, um so eine einheitliche und durch das Smartphone gesteuerte Kundenerfahrung zu bieten. Dabei spielt auch eine Rolle, wie fremde Mobilitätsangebote in das eigene Angebot eingebunden werden können und wie die unterschiedlichen Risiken dabei abgesichert werden.
Und was bedeuten diese neuen Mobilitätsformen für die Versicherer? Für die Versicherungsbranche bringt diese Art der Mobilitätswende die Notwendigkeit mit sich, das individuelle Versicherungs- und Servicebedürfnis eines Kunden noch besser zu verstehen. Während es früher – und größtenteils auch heute noch – darum ging, die Nutzung eines einzelnen Objektes, also des Autos, zu versichern, wird es morgen darum gehen, die individuellen Mobilitätsrisiken einer Person abzudecken und für de Kunden ein optimales Erlebnis zu garantieren. Natürlich auch dann, wenn mal etwas schiefgeht.Dafür müssen Versicherer mit Autoherstellern und Mobilitätsdienstleistern gleichermaßen zusammenarbeiten, um eine reibungslose Customer Journey sicherzustellen. Darüber hinaus sind viele Mobilitätsangebote zunehmend auch länderübergreifend nutzbar. Hierfür fragen Mobilitätsanbieter globale Lösungen an, die die Allianz mit ihrer weltweiten Präsenz bieten kann.
Was müssen die Policen denn konkret enthalten?Was die Police im Einzelfall beinhalten muss, hängt vom individuellen Mobilitätsbedürfnis des Kunden ab. Das kann von den Bestandteilen einer klassischen Kfz-Police (also Haftpflicht- oder Kaskoschutz) bei Nutzung des eigenen Autos über die Selbstbehaltsreduzierung für Carsharing-Fahrzeuge bis hin zu medizinischen Notfallleistungen im Falle eines Bike- oder Scootersharing-Unfalls führen. Wichtig ist dabei nur, dass der Kunde weiß, dass er abgesichert ist und direkte Hilfe bekommt, wenn er sie benötigt – am besten ohne dass er dafür eine unübersichtlich hohe Anzahl an Einzelpolicen abschließen muss.Welche Erfahrungen hat die Allianz mit Schadensfällen im Bereich Carsharing bisher gemacht?Grundsätzlich gibt es einen Zusammenhang zwischen der intensiveren Nutzung von (Carsharing-)Fahrzeugen und der absoluten Schadenhäufigkeit. Deswegen haben wir ein spezifisches Pricing-Modell entwickelt, das diesem Zusammenhang gerecht wird. Es hilft Carsharing-Anbietern, die ihr Geschäft ausbauen möchten, indem es die finanzielle Last einer starren Versicherungsprämie pro Jahr und Fahrzeug vom Anbieter nimmt. Der Carsharing-Anbieter muss zwar in jedem Fall eine Mindestprämie zahlen. Diese ist aber äußerst gering und bezieht sich nur auf die Zeiten, in denen die Carsharing-Fahrzeuge nicht genutzt werden. Über die Mindestprämie hinaus zahlt der Anbieter nur, wenn seine Fahrzeuge auch an Kunden vermietet wurden. Auf diese Weise trägt er ein geringeres wirtschaftliches Risiko, wenn seine Fahrzeuge nicht so häufig gebucht werden.Lesen Sie auch:
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