Die wachsenden Risiken durch globale Lieferketten hat die Automobilindustrie in den vergangenen Jahren bitter zu spüren bekommen. Fehlende Chips aus Asien, unterbrochene Kabelbaum-Lieferungen aus der Ukraine, kriegsbedingte Sanktionen gegen Russland und drohende chinesische Lieferbeschränkungen bei unverzichtbaren Rohstoffen zeigen der Branche: Mehr Vorsorge ist Pflicht. Abhängigkeiten von einzelnen Lieferanten sind ein Vabanquespiel. Die alte Einkaufsregel "nur der Preis zählt" hat ausgedient.
Die Autoindustrie ist dabei, resilientere Lieferketten aufzubauen. Bei einer weltweiten Befragung von Automobilmanagern im Juli (Automotive Supply Chain, pursuing long-term resilience) ermittelte das Beratungsunternehmen Capgemini, dass der Anteil der aus Fernost nach Europa gelieferten Rohstoffe und Komponenten seit Anfang 2021 um 25 Prozent (in Dollarwert gemessen) gesunken ist. In Deutschland ist der Rückgang mit 27 Prozent sogar am deutlichsten.
Die Neuausrichtung benötigt allerdings Zeit und kann zum Teil Jahrzehnte dauern. So hat die Internationale Energieagentur festgestellt, dass Lithium-Minen im Schnitt 16,5 Jahre brauchten, um ihr aktuelles Produktionsvolumen zu erreichen. "Die Industrie kann nicht von heute auf morgen eine Nahversorgung aufbauen, weil Unternehmen bereits eine etablierte Lieferbasis haben", sagt Marc-Oliver Nandy, Leiter Global Supply Chain bei Mercedes-Benz. "Allerdings können sie für neue Produkte, die sie auf den Markt bringen wollen, neue Lieferketten aufbauen." Die Führungskraft eines europäischen Autobauers nennt gar eine konkrete Zielgröße für das angepeilte "Nearshoring":"In Anbetracht des politischen Drucks und der Verfügbarkeit von Rohstoffen müssen mindestens 75 Prozent der Lieferkette langfristig in die Nähe der heimischen Märkte verlagert werden."