Kolossaler Koreaner – attraktive Alternative

Lexus müht sich seit Jahrzehnten, Cadillac hat allenfalls regionale Chancen und Jaguar hat sich faktisch genau wie Infiniti zumindest in Europa aus dem Wettkampf verabschiedet: Wenn es um das oberste Drittel der Oberklasse geht, halten allen voran die Mercedes S-Klasse und der BMW Siebener sowie bisweilen auch der Audi A8 das Heft fest in der Hand. Doch davon lässt sich Genesis nicht beeindrucken.

So, wie Hyundai und Kia vor allem VW das Fürchten gelehrt haben, hat deren feine Schwester einen Durchmarsch in der Oberklasse gestartet, der bereits Früchte trägt. Daheim in Korea und vor allem in den USA sind die Koreaner längst als ernsthafte Alternative zum süddeutschen Triumvirat etabliert, und auch in Europa haben sie nur ein gutes Jahr nach dem Start schon viel Beachtung geerntet.

Aber Autos wie der GV70 oder der G80 waren nur das Vorspiel und erst jetzt wird es ernst. Denn mit der neuen Genration ihres Flaggschiffs G90 wollen sich die Koreaner mit den Besten messen und gehen auf Konfrontationskurs zu S-Klasse und Co.

Dabei umgarnen sie die Oberschicht mit vertrauten Annehmlichkeiten und locken vor allem mit jeder Menge Platz und Protz: Schon die Standardversion des G90 hat 3,18 Meter Radstand und misst 5,28 Meter, was vorne für feudale Sessel und hinten auf Wunsch für eine Lounge-Liege mit elektrischer Fußanlage reicht. Und wer sich wirklich räkeln will auf der Rückbank, der bestellt die um 19 Zentimeter gestreckte Langversion und kann bei 5,47 Metern Länge dann im Fond fast Tango tanzen.

Dazu gibt es allerlei Gimmicks für reiche Genießer, von den elektrischen Türen reihum bis hin zu den Massagesitzen, die zusammen mit Beleuchtung, Klima- und Musikanlage auch von einem elektronischen Wellness-Coach gesteuert werden und die Insassen so je nach Stimmung ganzheitlich entspannen, animieren oder aufputschen – der "Energizing Comfort" der S-Klasse lässt grüßen.

Und natürlich ist der G90 auch bei den Assistenzsystemen auf dem neuesten Stand: Er hält automatisch Tempo, Spur und Abstand, parkt ohne den Fahrer per Fernbedienung ein und aus und füllt zum Beispiel den Toten Winkel über die Einblendung zweier Kameras hinter dem Lenkrad mit Leben.

Zwar eifern die Koreaner den Deutschen bei Ausstattung und Ambiente nach, schlagen aber beim Design eine ganz andere Richtung ein: Innen, weil sie den Trend zur Digitalisierung mit reichlich Lack und Leder kaschieren und deshalb eher eine Club-Atmosphäre zaubern – selbst wenn es natürlich auch im G90 eine Ambientebeleuchtung gibt, die den Innenraum auf Wunsch in ein schreiendes Pinklicht taucht. 

Und außen, weil sie eine gelungene Mischung aus Eleganz und Präsenz gefunden haben: Wo der neue Siebener zumindest für europäische Augen pure Provokation ist und die S-Klasse fast schon bescheiden auftritt, macht der G90 zwar mächtig was her und erzeugt mit seinen vier LED-Schlitzen links und rechts des großen Kühlers die nötige Aufmerksamkeit, eckt dabei aber nirgends an. Und das Heck erinnert fast ein bisschen an den ersten Mercedes CLS, so elegant und fließend kaschieren die Koreaner dort den klassischen Stufenschnitt. 

Doch spätestens beim Blick unter die Haube fallen die Koreaner zurück: Wo BMW mit einer rein elektrischen Version den Aufbruch in die Zukunft wagt, Mercedes mit einer AMG-Variante die Bleifüße lockt oder der Generation E den EQS anbietet, alle Deutschen mindestens bis zum Achtzylinder gehen und die Bedenkenträger mit einem Plug-in-Hybrid beruhigen, gibt es den G90 mit einem zumindest auf dem Papier für diese Klasse zu bescheidenen V6-Motor von gerade mal 3,5 Litern Hubraum. Selbst wenn ein elektrischer Turbolader ein bisschen Hightech verspricht und die Leistung von 380 auf 409 PS steigert, ist damit kaum ein Staat zu machen.

Wer allerdings die Papierform ignoriert und beim Prestige eher auf die Marke setzt als die Motoren, der findet kaum einen Grund zur Klage. Denn bei bis zu 540 Nm sind gute fünf Sekunden für den Sprint von 0 auf 100 km/h freilich kein schlechter Wert, die üblichen 250 Sachen sollte er auf einer deutschen Autobahn spielend schaffen und in der Komfortwertung muss sich der G90 ohnehin nicht verstecken.

Adaptive Dämpfer, eine seidenweiche Achtgang-Automatik, die Option auf einen beruhigend traktionsstarken Allradantrieb und eine Hinterachslenkung machen ihn zum fliegenden Teppich für die linke Spur, der die Insassen in Watte packt und auf Wolken bettet. Und wenn der Fahrer in den Sport-Modus wechselt, dann erlaubt sich der G90 sogar ein bisschen Würze und taugt soweit als Pulsbeschleuniger, wie das bei einem 2,5-Tonner von mehr als fünf Metern eben möglich ist. 

Dass der G90 daheim in Korea gut ankommt, ist eine Frage der nationalen Ehre. Und auch der Erfolg in den USA ist kein Wunder, schließlich schauen die Amis mehr auf den Preis, der in der Mitte der 80.000er startet und damit rund 30.000 Dollar unter der S-Klasse oder dem Siebener liegt, als aufs Prestige. So haben sie schon den Toyota-Ableger Lexus und die Nissan-Schwester Infiniti groß gemacht.

Doch bald wollen es die Koreaner offenbar wirklich wissen und wagen sich in die Höhle des Löwen. Denn im neuen Jahr, so hört man aus der Europa-Zentrale in Offenbach, soll es den G90 zumindest in einer Kleinserie auch bei uns geben. Und selbst wenn die US-Preise dabei kaum zu halten sein werden und es ins Sechsstellige gehen dürfte, bleibt der kolossale Koreaner eine attraktive Alternative. Weil er anders ist als die anderen und jene Kunden bedient, die Mercedes und BMW mit ihrem Fokus auf China und die Genration Smartphone hinter sich gelassen haben, könnte der Griff nach den Sternen sogar gelingen.

Aus dem Datencenter:

Modellvorschau Genesis bis 2023