Von wem kommt die Kritik?
Das jetzt veröffentlichte Schreiben stammt von vier Autoren, angeführt vom ehemaligen Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP), Dieter Köhler. Zudem wurde es inzwischen von 112 Lungenärzten oder anderen mit dem Thema Luftschadstoffe befassten Experten unterzeichnet. "Die Liste zeigt, dass die Gruppe der Forscher und Lungenärzte, die der aktuell vorherrschenden Position widersprechen, deutlich größer ist als angenommen", heißt es dazu von DGP, dem Verband der pneumologischen Kliniken (VPK) und der Deutsche Lungenstiftung, die das Papier veröffentlicht haben, ohne es sich zu eigen zu machen.
Worum geht es bei der Kritik?
Die Autoren werfen den Verfassern der gängigen Studien systematische Fehler und eine einseitige Interpretation vor. Zudem bringen sie einige Gegenargumente. Insgesamt geht es um mehrere Ansatzpunkte.
- Studiendesign: Viele Studien zur Schädlichkeit von Luftschadstoffen beruhen auf epidemiologischen Daten, schließlich wäre es ethisch nicht vertretbar, Menschen zum Test den Schadstoffen auszusetzen. Diese Studien betrachten - stark verkürzt - das Auftreten von Erkrankungen und gleichen es mit anderen Faktoren ab, in diesem Fall mit der Konzentration der Schadstoffe. Dabei muss allerdings stark darauf geachtet werden, dass nicht andere Faktoren für gemessene Abweichungen ursächlich sind. Die Kritiker werfen den Studien nun vor, hier falsche Schlüsse gezogen zu haben. "Man findet mehr oder weniger regelhaft eine sehr geringe Risikoerhöhung in staubbelasteten Gebieten, meistens nur um einige Prozent. Aus dieser Korrelation wird fälschlicherweise eine Kausalität suggeriert, obwohl es viel offensichtlichere Erklärungen für die Unterschiede gibt", schreiben die Kritiker. Sie gehen davon aus, dass andere Faktoren (Störfaktoren) die Ursache für die gemessenen Unterschiede sind.Die DGP ist sich der Grundproblematik des Studiendesigns durchaus bewusst, weist aber darauf hin, dass "die zahlreichen umweltepidemiologischen Studien (...) konsistente Ergebnisse über die statistischen Zusammenhänge zwischen erhöhten Luftschadstoffbelastungen und negativen gesundheitlichen Auswirkungen" lieferten. Nachgewiesene Zusammenhänge zwischen einem Luftschadstoff und gesundheitlichen Auswirkungen könnten ein Hinweis auf direkte Wirkungen sein.
- Muster bei den Erkrankungen: Die Kritiker führen an, dass die epidemiologischen Studien Feinstaub und NOx mehr als zwei Dutzend "sehr verschiedene bunte Krankheitsbilder" zuordnen. "Wenn nun aber die Luftverschmutzung so gefährlich wäre, so müsste sie ein typisches Vergiftungsmuster verursachen", schreiben sie. "Das völlige Fehlen dieses Musters spricht gegen eine Gefährdung und für Störfaktoren." Zudem gebe es keine plausiblen Hypothesen, "wie die Luftverschmutzung diese vielen unterschiedlichsten Erkrankungen verursachen soll".
- Gegenbeispiel Raucher: Die Kritiker führen an, dass Raucher extrem hohe Mengen an Feinstaub und NOx einatmen. Bei einem Raucher, der eine Packung am Tag konsumiert, werde in zwei Monaten die Feinstaubmenge erreicht, die ein Nichtraucher in 80 Jahren einatme. "Würde die Luftverschmutzung ein solches Risiko darstellen und entsprechend hohe Todeszahlen generieren, so müssten die meisten Raucher nach wenigen Monaten alle versterben, was offensichtlich nicht der Fall ist."
- Mangel an Todesfällen, die direkt zugeordnet werden können: Die Kritiker führen an, dass in etwa die selbe Zahl an Menschen an Zigarettenrauch stirbt, wie Studien Feinstaub und NOx zuordnen. "Lungenärzte sehen in ihren Praxen und Kliniken diese Todesfälle an COPD und Lungenkrebs täglich; jedoch Tote durch Feinstaub und NOx, auch bei sorgfältiger Anamnese, nie. Bei der hohen Mortalität müsste das Phänomen zumindest als assoziativer Faktor bei den Lungenerkrankungen irgendwo auffallen."
Wie stichhaltig ist die Kritik?
Das lässt sich schwer beurteilen. Die vorherrschende Meinung der Wissenschaft basiert auf Studien renommierter Forscher und Institute und wird von zahlreichen Stellen angewandt. Auf der anderen Seite wird die Kritik bereits von einer Zahl von Experten unterstützt, die auch nach Ansicht von DGP, dem Verband der pneumologischen Kliniken (VPK) und der Deutsche Lungenstiftung größer als angenommen ist - siehe oben. Dennoch stellen die 112 Unterzeichner nur einen Bruchteil der wissenschaftlichen Community dar - die DGP hat 4100 Mitglieder, davon sind knapp 3300 Ärzte.
Kritik an der Stellungnahme kommt unter anderem vom Bund Naturschutz Deutschland. Hamburgs BUND-Landesgeschäftsführer Manfred Braasch, erklärte, die Grenzwerte seien seit 20 Jahren bekannt und vielfach diskutiert sowie geprüft worden. "Die Frage ist doch, warum sich die Ärzte erst zu Wort melden, wenn das seit fast zehn Jahren geltende Recht zum Schutz der menschlichen Gesundheit ganz oben auf der politischen Agenda steht und endlich durchgesetzt werden soll."
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