Wie ein US-Gesetz die Automobilbranche verändert

Im Jahr 1492 betrat der Italiener Christoph Kolumbus den amerikanischen Kontinent. 530 Jahre später machen sich jetzt wieder Europäer auf, das Land zu entdecken. Durch den sogenannten Inflation Reduction Act der Regierung von US-Präsident Joe Biden, der eine Förderung von Elektrofahrzeugen nur bei einem hohen Anteil der Wertschöpfung und einer Endfertigung in Nordamerika vorsieht, ändern sich die Marktvoraussetzungen in den USA für europäische Hersteller komplett.

Statt Fahrzeuge aus Europa zu importieren, müssen die OEMs zukünftig vor Ort produzieren, um Neuwagen-Kunden einen Steuervorteil von bis zu 7500 Dollar zu ermöglichen, den Rivalen wie Tesla oder Ford mühelos erhalten. Konkret besagt das Mitte August verabschiedete neue Gesetz zur Stärkung der lokalen Wirtschaft und Bekämpfung der Inflation in den Vereinigten Staaten (im September 8,2 Prozent), dass künftig nur Fahrzeuge subventioniert werden, deren Endmontage in Nordamerika stattfindet, deren Batterien größer sind als 7 kWh und deren Preis unter 55.000 (Pkw) beziehungsweise 80.000 Dollar (SUVs/Pick-ups) liegt.

Der bisherige Deckel von 200.000 geförderten Fahrzeugen pro Hersteller jährlich soll in Zukunft wegfallen. Dazu kommt der wohl komplizierteste Aspekt des neuen Gesetzes: Ab 2023 müssen 40 Prozent der kritischen Rohstoffe (unter anderem Lithium, Nickel, Grafit) der Batteriebestandteile in den USA oder einem Land, mit dem die USA ein Freihandelsabkommen unterhalten, abgebaut oder verarbeitet werden. 2026 werden es sogar 80 Prozent der Rohstoffe sein. 50 Prozent des Batteriepacks müssen zudem ebenfalls in den USA endmontiert werden. Auch dieser Wert steigt bis 2028 auf volle 100 Prozent. Für europäische Hersteller auf dem US-Markt ist das ein massiver Wettbewerbsnachteil.

Daniel Röska vom US-Analysehaus Bernstein Research sagte der Automobilwoche: „Der Inflation Reduction Act wird zu einem großen Umdenken bei der Autoproduktion in den USA führen. Insbesondere Hersteller, die einen Großteil ihrer Fahrzeuge importieren, werden unter Druck geraten.“ Wie einschneidend die Auswirkungen sind, zeigt ein Blick auf die Modelle, die laut US-Energieministerium ab dem Jahr 2023 förderfähig sind. Das Portfolio von BMW schrumpft von derzeit acht Modellen auf nur noch zwei: die Plug-in-Hybride 330e (gebaut im mexikanischen San Luis Potosí) und X5 aus dem Werk in Spartanburg in South Carolina.

Audi hat aktuell noch sieben förderfähige Hybride und Elektroautos. Nach den Kriterien des Inflation Reduction Acts bleibt kommendes Jahr nur der Q5 aus dem Werk im mexikanischen San José Chiapa übrig.

Bei Mercedes wird ausschließlich der neue EQS SUV als förderfähig eingestuft. Kurios ist: Der VW ID.4, seit Sommer im Werk in Chattanooga/Tennessee gefertigt, ist aus Sicht der US-Behörden aktuell noch nicht für eine Förderung berechtigt. Die Prüfung laufe, teilte Volkswagen auf Anfrage mit. Die Wolfsburger gehen davon aus, bis Ende 2022 noch eine Zertifizierung für ihren Elektro-Hoffnungsträger zu erhalten. Aktuell ringen allerdings Lobbyisten aller europäischen Hersteller mit den Behörden in Washington um die Feinheiten und kämpfen um eine möglichst hohe Förderung für jedes einzelne Modell.

Dennoch gibt man auch bei VW zu, dass die Biden-Initiative „kurzfristig das Interesse unserer Kunden dämpfen könnte“. Die Ingolstädter Premium-Schwester Audi denkt bereits laut über Gegenmaßnahmen nach. Entwicklungsvorstand Oliver Hoffmann verkündete unlängst, man prüfe jetzt sogar den Bau eines Werks in den USA. 

BMW ist da schon einen Schritt weiter: Die Münchner investieren 1,7 Milliarden Dollar in den Standort Spartanburg, um bis 2030 sechs vollelektrische Modelle im US-Werk zu bauen. Doch auch in München sieht man die großen Herausforderungen durch das neue US-Gesetz: „Es bleibt für alle Fahrzeughersteller sehr ambitioniert, die Anforderungen in der Lieferkette zu erfüllen“, heißt es aus dem Vierzylinder-Hochhaus. 

Damit Amerika wieder das gelobte Land für die Branche wird, müssen sich europäische Hersteller also noch mächtig strecken. Beim Verband der Automobilindustrie beurteilt man den Weg der US-Regierung skeptisch. Präsidentin Hildegard Müller sagte der Automobilwoche: „Der VDA unterstützt den Hochlauf der Elektromobilität in den USA und begrüßt grundsätzlich die Förderung. Allerdings sehen wir kritisch, dass diese Förderung an Auflagen gebunden ist, die sich auf lokale Wertschöpfung beziehen.“ 

Müller fordert: „Die EU-Kommission hat die neuen Regelungen der US-Regierung, die bald in Kraft treten sollen, mit Recht kritisiert und deren WTO-Konformität angezweifelt. Die Bundesregierung sollte nun die rechtliche Analyse der EU unterstützen und sich für eine WTO-konforme Regelung einsetzen, damit die deutsche Automobilindustrie nicht benachteiligt und E-Mobilität in den USA nicht ausgebremst wird.“

Und nicht nur die OEMs schauen aktuell aufmerksam über den Atlantik. Auch für die Zulieferer ändert sich das US-Geschäft. Kai Knickmann, CEO von Kostal Automobil Elektrik, sagte der Auto-mobilwoche: „Wir wollen in den Amerikas deutlich stärker wachsen und sind mit dem schnellen Umstieg unserer OEM-Kunden in Nordamerika in Bezug auf batterieelektrische Fahrzeuge auf der richtigen Zeitschiene unterwegs.“

Für die Zulieferer wird vor allem die Frage nach den Verarbeitungsprozessen der kritischen Rohstoffe ausschließlich in den USA spannend. Alexander Timmer, Partner bei der Strategieberatung Berylls, sagte der Automobilwoche: „Das führt dazu, dass in Nordamerika immense Zellkapazitäten von chinesischen und koreanischen Unternehmen wie LG, Samsung und CATL aufgebaut werden. Auch Hyundai errichtet in Nordamerika ein neues Werk. Dafür werden viele europäische Zulieferer angefragt, um vor Ort Werke aufzubauen.“

Anfang November könnten allerdings neue Turbulenzen auf dem US-Markt drohen. Für den 8. November sind Zwischenwahlen, die sogenannten Midterms, zum Senat und Repräsentantenhaus angesetzt. Die regierenden Demokraten haben jeweils nur eine knappe Mehrheit.

Erobern die von Ex-Präsident Donald Trump dominierten Republikaner eine der beiden Kammern in Washington, wird es für die Biden-Regierung deutlich schwieriger, ihre Politik durchzusetzen. Auch die Auslegungen des Inflation Reduction Acts könnten dann noch ins Wanken geraten. Die erneute Entdeckung Amerikas wird wohl wieder mal zum Abenteuer.

Aus dem Datencenter:

Verkäufe und Marktanteile wichtiger Marken in den USA von Januar bis September 2022