Herr Schrickel, auf der IAA Mobility zeigt Brose eine Konnektivitätssoftware, die alle Funktionen im Fahrzeug miteinander verknüpft und steuert. Wird Brose zum Softwareunternehmen?
Nein, unser Kern bleibt natürlich die Mechatronik. Allerdings bin ich der festen Überzeugung, dass wir als direkter Zulieferer an die Fahrzeughersteller unsere mechanischen Produkte noch mehr als bisher um Sensorik, Elektronik und Software ergänzen müssen. Unsere Komponenten werden so zu vernetzungsfähigen, intelligenten Systemen und ermöglichen dem Endverbraucher neue Mobilitätserlebnisse.
Woran denken Sie dabei?
Wenn beispielsweise ein Möbelstück im Fahrzeug verstaut werden soll, lässt sich das Ladegut per Handy vermessen und der Autofahrer erhält eine Nachricht, ob das Möbel in den Laderaum passt. Ist das der Fall, bereitet sich das Auto darauf vor, verändert automatisch die Sitzkonfiguration und klappt beispielsweise die Rückbank um, um dem Nutzer das Einladen zu erleichtern. Ein intelligenter Innenraum bedeutet natürlich auch, dass alle sicherheitsrelevanten Funktionen mit an Bord sind. Zum Beispiel sorgen wir durch die Einbindung unserer Radarsensoren in das System für einen zuverlässigen Kollisions- und Einklemmschutz, wenn sich das Interieur selbsttätig verstellt.
Welche Schnittstellen bietet die Software?
Die von uns entwickelte Software mit dem Namen Brain – das steht für Brose Access and Interior Network – funktioniert mit den verschiedensten Elektronikarchitekturen und nutzt gängige standardisierte Schnittstellen. Sie kann also nicht nur Brose-Produkte steuern, sondern auch Komponenten von Drittanbietern. Für die IAA haben wir Brain zur Veranschaulichung auf einem zentralen Steuergerät unseres Partners Joynext integriert und dessen Infotainment- und Navigationsfunktionen ebenfalls vernetzt.
Sie wollen mit Brain auch neue Geschäftsmodelle ermöglichen, bei denen der Nutzer zusätzliche Funktionen dauerhaft oder zeitlich begrenzt buchen kann. Wer verdient mit diesen Services das Geld?
Die Hoheit darüber liegt beim Fahrzeughersteller. Wir werden natürlich nicht am Kunden vorbei eine Plattform anbieten, bei der wir mit den Autos des Herstellers direkt solche Pay-per-use-Fälle generieren. Wir wollen von der verkauften Software profitieren. Aber wir können uns natürlich noch andere Anwendungsfälle vorstellen.
Woran denken Sie dabei?
Im Shared-Mobility-Bereich können solche Anwendungen auch direkt von Brose bereitgestellt werden. Das ist besonders interessant für große Flottenbetreiber oder auch Taxiunternehmen, die ihren Kunden bestimmte Services anbieten möchten.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Die Sitze in Taxis könnten beispielsweise so ausgestattet werden, dass Sie als Fahrgast jederzeit via Smartphone eine Rückenmassage aktivieren können. Ich bin davon überzeugt, dass die grundsätzliche Orchestrierung und die intelligente Vernetzung von Funktionen im Auto zunimmt – allein schon durch das Fortschreiten des autonomen Fahrens. Die Zahl der möglichen Funktionen wird vor diesem Hintergrund deutlich steigen.
Gibt es schon Kunden für Brain?
Es liegt noch kein Auftrag vor, aber es besteht großes Interesse. Das Umfeld entwickelt sich weiterhin sehr dynamisch. Viele unserer Kunden stehen vor der Entscheidung, ob sie sich auf die drei Domänen Powertrain, Infotainment oder autonomes Fahren fokussieren sollen – oder ob sie sich auch bei Nebenanwendungen wie dem Komfortbereich engagieren. Im Moment ist vieles offen, auch inwieweit die Softwarepakete fürs Auto vom Hersteller alleine oder zusammen mit Zulieferern entwickelt werden sollen.
Wie sehr belasten Sie die Nachwirkungen der Coronapandemie und die Halbleiterkrise?
Mit der Coronapandemie können wir mittlerweile gut umgehen. Weit mehr als die Hälfte unserer Mitarbeiter ist geimpft. An allen größeren Standorten haben wir selbst Impfangebote unterbreitet, um das Tempo zu beschleunigen. Dagegen beschäftigt uns derzeit die Halbleiterkrise und ihre Auswirkung auf die gesamte Industrie sehr. Kunden schließen ihre Werke ungeplant und die logistische Abstimmung bedeutet für uns einen großen Aufwand.
Was haben Sie aus der Halbleiterkrise gelernt?
Bereits vor der Krise haben wir weitsichtig geplant und Vorräte angelegt. Das ist aufgrund der langen Durchlaufzeiten von drei bis sechs Monaten auch notwendig – schließlich funktioniert inzwischen fast kein Brose-Produkt mehr ohne Halbleiter. Um uns noch besser abzusichern, bemühen wir uns derzeit bei wichtigen Halbleitern verstärkt um zusätzliche Lieferanten. Aktuell kommen aber mehrere Faktoren gleichzeitig zusammen, weswegen die Auswirkungen so weitreichend sind. Neben der schnellen Erholung des Fahrzeugmarkts sind das Einschläge bei den Chipherstellern, sei es ein sehr harter Winter mit Stromausfällen, Brände oder Covid-bedingte Werksschließungen.
Wie entwickelt sich das Geschäftsjahr 2021?
Nach einem guten Start in das Geschäftsjahr macht sich die Halbleiterkrise seit Juli so richtig bemerkbar. Viele Fahrzeughersteller schließen einen Teil ihrer Werke. Daher werden sich unsere Erwartungen nicht erfüllen.
Welchen Umsatz werden Sie erreichen?
Wir planen noch mit rund 5,5 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Im vergangenen Jahr lagen wir bei 5,1 Milliarden Euro. Aber das ist die Einschätzung nach jetzigem Stand. Wenn es im Jahresverlauf zu keiner Beruhigung der Halbleitersituation kommt, kann es sein, dass wir die Prognose noch nach unten korrigieren müssen. Im Augenblick ist eine zuverlässige Abschätzung sehr schwierig. Die Aufträge und der Markt sind vorhanden, um beim Umsatz deutlich über sechs Milliarden zu gehen – aber wir können das in diesem Jahr nicht realisieren, weil der Halbleitermangel die Automobilproduktion ausbremst. Wir schätzen, dass die Auswirkungen bis Anfang 2022 zu spüren sein werden.
Können Sie den Auftragsbestand konkretisieren?
Die Auftragsakquisition läuft sehr gut. 2020 war schon ein sehr gutes Jahr, 2021 werden wir sogar den höchsten Auftragseingang der Brose-Geschichte erzielen. Das heißt, unsere Produktstrategie geht auf und die umfangreichen Investitionen in neue Technologien zahlen sich aus. Im Jahr 2025 wollen wir inklusive des geplanten Joint Ventures Brose Sitech rund neun Milliarden Euro Umsatz erzielen.
Mit Future Brose hat das Unternehmen ein Programm zur Effizienzsteigerung gestartet. Bis Ende 2022 sollen etwa 2000 ihrer rund 9000 Mitarbeiter in Deutschland abgebaut werden. Bleibt es dabei?
Ja, gemeinsam mit unseren Arbeitnehmervertretern haben wir innerhalb von weniger als zwölf Monaten sozialverträgliche Lösungen gefunden. Dafür bin ich unseren Betriebsräten sehr dankbar. Mittlerweile haben wir 75 Prozent des geplanten Stellenabbaus realisiert. Das heißt nicht, dass drei Viertel der avisierten 2000 Mitarbeiter bereits nicht mehr bei Brose arbeiten, sondern dass wir mit ihnen Vereinbarungen über Altersteilzeit und weitere Programme getroffen haben. Der Brose-Weg sieht vor, dass wir unsere Mitarbeiter fair behandeln. Das macht unser Familienunternehmen aus.
Sie haben angekündigt, durch das Programm ab 2025 jährlich rund 500 Millionen Euro einsparen zu wollen. Schaffen Sie das?
Bis 2022 werden wir knapp 280 Millionen Euro an Einsparungen realisieren. Wir sind also auf einem guten Weg und das Ziel von rund 500 Millionen Euro jährlich ab 2025 hat nach wie vor Bestand. Dafür automatisieren wir viele Prozesse und organisieren uns effizienter – eine Mammutaufgabe für das Unternehmen. Für jeden einzelnen Mitarbeiter bedeutet das eine große Veränderung in der Art der Zusammenarbeit. Das funktioniert nur, wenn alle davon überzeugt sind, dass sich die Anstrengungen lohnen.
Was tun Sie, um sich neue Märkte zu erschließen?
Wir übertragen unsere jahrzehntelange Erfahrung aus der Automobilindustrie auf weitere Segmente. Das zeigen wir bereits im Bereich E-Bike und nun gehen wir den aussichtsreichen Markt für elektrische Kleinfahrzeuge wie Roller oder Motorräder an. Aufgrund der Umweltgesetzgebung, zum Beispiel in Indien, entwickelt sich ein sehr interessanter Wachstumsmarkt für elektrisch betriebene Zweiräder. Jüngst haben wir einen großen Auftrag für E-Roller erhalten. Wir liefern den Motor, die zentrale Steuereinheit und die Leistungselektronik. Die Komponenten produzieren wir vor Ort, bei der Entwicklung arbeiten Kollegen aus Indien und Deutschland über Ländergrenzen hinweg zusammen. Aber auch im Automobilbereich erweitern wir unser Portfolio, beispielsweise für elektrifizierte Fahrzeuge. Im Bereich Thermalmanagement haben wir bereits Aufträge erhalten.
Welche Pläne verfolgen Sie in Asien?
Es ist Teil unserer Strategie, einen stärkeren Fokus auf den asiatischen Markt zu legen. Dort wollen wir unser Geschäft ausweiten, insbesondere mit lokalen Herstellern.
Welchen Umsatzanteil erreicht Asien derzeit bei Ihnen?
Allein China hat einen Anteil von 30 Prozent an der weltweiten Automobilproduktion. Wir machen aktuell deutlich weniger als ein Drittel unseres Geschäfts dort, müssen uns aber in diese Richtung bewegen.
Wann erwarten Sie für Ihr Joint Venture Brose Sitech die Freigabe der Kartellbehörden?
Wir kommen beim geplanten Gemeinschaftsunternehmen mit Volkswagen gut voran und ich hoffe, dass wir dazu schon bald etwas verlautbaren können. Bis zum Abschluss der Transaktion können wir noch nicht am Markt agieren, aber natürlich denken wir darüber nach, wie wir das Geschäft entwickeln können. Schon jetzt stößt das neue Unternehmen für komplette Sitzsysteme und Innenraumlösungen auf großes Interesse am Markt.
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