Manager wie Martin Hermsen verlassen sich bei Erprobungsfahrten in erster Linie auf ihr Sitzgefühl. Doch bei seinem aktuellen Projekt sind dem Mercedes-Entwickler andereSinnesorgane wichtiger. Hermsen leitet die Antriebsentwicklung für den Mercedes EQC, ist kurz vor der Markteinführung mit den letzten Prototypen auf Abstimmungsfahrt und spitzt dabei vor allem die Ohren.
„Natürlich gelten für unsere Elektrofahrzeuge die gleichen Maßstäbe in Sachen Qualität, Haltbarkeit und Fahrerlebnis wie für konventionelle Modelle“, sagt Hermsen. Um diese zu erreichen und zu überprüfen, müssen sich die Entwickler neuen Herausforderungen stellen. Hermsen nennt die Akustik als einen der größten Unterschiede.Weil der E-Motor kaum Lärm macht, werden auch leise Nebengeräusche schnell als störend empfunden und müssen deshalb noch gründlicher bekämpft werden. Modifizierte Klimaanlagen, dickere Dichtungen und die doppelt entkoppelten Aufhängungen für den Motor: „Das sind Themen, mit denen wir uns bei Verbrennern leichter getan haben“, räumt der Entwickler ein.
Und es sind nicht die einzigen Unterschiede, die auf die Ingenieure bei den Abnahmefahrten auf der „Electric Avenue“ zukommen. „Auf den ersten Blick sieht unsere Erprobung zwar nicht anders aus als bei einem Golf“, sagt Frank Bekemeier, der als Projektleiter gerade mit dem VW ID rund um Kapstadt kurvt.Denn auch hier geht es um Dauerhaltbarkeit, um den Stresstest bei extremen Temperaturen oder den Komfort im Stop-and-go-Verkehr. „Wir müssen uns auch Themen anschauen, die bei konventionellen Fahrzeugen keine Rolle spielen.“ Das gilt vor allem für die Akkus und ihr Thermomanagement, damit die Zellen immer die beste Leistung liefern. Und es gilt für die Rekuperation und das Zusammenspiel mit den konventionellen Bremsen. Das sei eine neue Stellgröße für die VW-Entwickler.
Mit den Regelsystemen beschäftigt sich auch Mercedes-Manager Hermsen: Weil sich Elektromotoren viel schneller ansteuern lassen und weil es davon zwei gibt, muss ihr Zusammenspiel genau geregelt werden. Beim EQC bis zu 1000-mal pro Sekunde. Zwar lasse sich so die Kraftverteilung und damit die Fahrdynamik viel feinfühliger steuern. „Aber dafür haben wir auch deutlich mehr Stellschrauben zu justieren“, sagt Hermsen, der dafür endlose Runden auf den Eisseen am Polarkreis dreht, bei denen sein Sitzgefühl zum Tragen kommt.
Auch mit dem Laden beschäftigen sich die Entwickler. Zwar hat Mercedes eigens ein Ladelabor eingerichtet, in dem weltweit alle Ladesäulen und Stromstärken simuliert werden können. Doch die Entwickler sind auf jede Fahrt gespannt, bei der sie ihre Prototypen real ans Netz hängen können. „Da ist die Theorie sehr viel weiter als die Praxis“, sagt Hermsen und berichtet von Pleiten, Pech und Pannen.Doch zumindest ein Problem ist mittlerweile gelöst: Früher mussten die Entwickler mit Generator reisen, mittlerweile gibt es selbst in den entlegensten Ecken der Welt immer irgendwo eine Steckdose für die Erlkönige.
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