Eine Frage der Endkunden-Akzeptanz

Steigende Anforderungen an die Verkehrssicherheit lassen digitale Spiegel verstärkt in den Fokus rücken.

Allerdings: "Noch hat der klassische Rückspiegel nicht ausgedient, denn bei digitalen Spiegeln sind die hohen Sicherheits- und Qualitätsanforderungen an ein solch permanent relevantes System deutlich komplexer als bei den bisherigen Rückspiegeln", erklärt Sascha Semmler, Leiter Programm-Management Kamera in der Continental-Geschäftseinheit Fahrerassistenzsysteme.

Den wesentlichen Vorteil klassischer Rückspiegel sieht Semmler in deren Akzeptanz bei den Verbrauchern im Vergleich zu Kamera-Monitor-Systemen.

Auch für Jörn Klingemann, Geschäftsführer von Ficosa International, deutsche Niederlassung der spanischen Ficosa Gruppe, hat der klassische Rückspiegel auch aus Kostengründen noch lange nicht ausgedient.

Zudem braucht der elektrische, digitalisierte und durch Bildverarbeitung charakterisierte Rückspiegel eine stabile und sichere Energieversorgung im Fahrzeug.

Der klassische Spiegel zeigt das Bild in gleicher Qualität, auch wenn die Fahrzeugbatterie schwach ist oder komplett ausfällt, heißt es bei Ficosa. "Ein Kamerabild kann ausfallen, ein Spiegel zeigt immer ein Bild", bringt es Klingemann auf den Punkt.

Allerdings: Wenn durch die Bildverarbeitung zusätzliche Sicherheitsfunktionen zu einem akzeptablen Marktpreis verfügbar sind, werde sich der Ersatz eines klassischen Spiegels beschleunigen, ist er überzeugt.

Der US-Spiegelhersteller Gentex ergänzt, dass der Fahrer mit herkömmlichen Spiegeln bei Rückwärts- oder Einparkmanövern die Entfernung besser einschätzen kann. Bei einem klassischen Spiegel müssen im Gegensatz zum Display-Spiegel zudem die Augen nicht immer wieder neu ausgerichtet werden.

Diese kontinuierliche Neuausrichtung könne zurErmüdung der Augen führen und gerade für ältere Fahrer problematisch sein. Zudem sind klassische Spiegel kostengünstiger als digitale Systeme und die Bilder von Kameras können von Schnee, Regen oder Schmutz beeinflusst werden.

Bei Gentex macht man darauf aufmerksam, dass die Sicht durch den Rückspiegel oft durch das Fahrzeugdesign, Gegenstände, Personen, Kopfstützen und anderes mehr beeinträchtigt ist. Daher hat der Zulieferer den Full Display Mirror (FDM) entwickelt.

Bei dem hybriden Spiegelsystem wird ein konventionell abblendbarer Rückspiegel mit einem auf dem Dach installierten kamerabasierten System mit dem Spiegel als Display kombiniert.

Über einen Hebel kann der Fahrer zwischen den beiden Funktionen und verschiedenen Modi auswählen. Beispielsweise ist eine komplette Rückansicht oder eine dreigeteilte Ansicht mit beiden Außenspiegeln und der Rückansicht möglich.

Gentex liefert den hybriden Display-Spiegel bereits in über 30 Fahrzeugmodelle, vor allem an japanische und US-Marken. Im Jahr 2019 hat der Zulieferer insgesamt rund 700.000 Displayspiegel ausgeliefert. Dennoch sei der klassische Spiegel nach wie vor unabdingbar; in den USA alleine schon aufgrund gesetzlicher Anforderungen, heißt es dort.

Der Zulieferer verweist darauf, dass ein Display-Spiegel dem Fahrer zu einer freien, ungehinderten Sicht nach hinten verhilft und das Sichtfeld um ein Vielfaches vergrößert.

Der Sportwagenhersteller Aston Martin ist der erste Kunde, der die Hybridlösung in einem CMS (Camera-Monitoring-System) verbaut. Das System, eine Weiterentwicklung des FDM, besteht aus insgesamt drei Kameras, von denen zwei in den Außenspiegeln untergebracht sind. Eine wird auf dem Dach oder in der Heckscheibe verbaut. Die Bilder der Kameras werden in mehreren zusammengesetzten Ansichten auf das im Innenspiegel integrierte Display gestreamt.

Bei Gentex ist man zuversichtlich, dass die Bereitschaft der Autofahrer für die neue Technik da ist. Laut einer selbst in Auftrag gegebenen Studie würden nur zehn bis 15 Prozent der Autofahrer den Rückblick durch den Display-Spiegel nicht mögen.

Für Conti-Manager Semmler ist die Großserie digitaler Spiegel weniger eine Frage der Technologie "als eine Frage der Endkundenakzeptanz, die von Nutzen, Kosten aber auch Trends abhängt. Der Markterfolg kommt mit signifikant erfahrbarem Komfort- oder Sicherheitsnutzen sowie einwandfreier Ergonomiefunktion", ist er überzeugt.

Auch bei Continental sieht man einige Vorteile beim Einsatz digitaler Spiegel. Neben einem größeren Sichtfeld sind das Blendfreiheit, Verkehrssituationserkennung mit Fahrerassistenzfunktionen, eine geringere Empfindlichkeit gegen Verschmutzung, eine bessere Sicht bei Dämmerung und Nässe, weniger Verbrauch, reduzierte Windgeräusche und keine Beschädigungen von Außenspiegeln.

Semmler erwartet, dass sich die Kamera-/Monitorsysteme zunächst bei Lastwagen durchsetzen. Hier könnten die teilweise ausladenden Spiegel an den Fahrerkabinen durch kleinere windschnittige Kameras ersetzt werden.

Da bei Lkw-Besitzern und großen Flottenbetreibern die Kosten ein wichtiges Kriterium sind, könne schon heute relativ schnell ein positiver Effekt erreicht werden, weil sich der Verbrauch aufgrund des geringeren Luftwiderstands verringert, so Klingemann.

Zudem würden komplexe Rangiermanöver beim Lkw halb- oder vollautomatisch durch Bildsensoren und die entsprechende Verarbeitung möglich.

Bei Continental sieht man jedenfalls ein großes Interesse an kamerabasierten Rückspiegelsystemen und der Zulieferer befinde sich weltweit "mit mehreren Herstellern in intensiven Gesprächen", so Semmler.

Für Klingemann ist ein digitaler Rückspiegel in Zukunft ein ganz wichtiger Teil einer Gesamtsensorik in Fahrzeugen, die verlässlich Gefahren vorhersehen kann und hilft, Fahrzeuge in Zukunft autonom fahren zu lassen.

Das Kamerabild werde allerdings in dem Moment zu einem Nebenprodukt, wenn der Bildsensor zu einem wichtigen Bestandteil der kompletten Sensorik für halb- oder vollautomatisiertes Fahren mutiert.

Ficosa fertigt seit 2018 neben dem klassischen Rückspiegel auch den digitalen Rückspiegel-Ersatz des neuen Audi e-tron in Serie. "Ebenso starten wir in Kürze mit der Produktion eines Kamerasystems für den Ersatz eines Rückspiegels bei einem Lkw-Hersteller", erklärt Klingemann. Der Name des Kunden dürfe aber noch nicht genannt werden.

Der Geschäftsführer verweist auf die Vorteile, die eine Bildverarbeitung und das daraus erwachsende Sicherheitspotenzial bieten kann. Heute ermöglichen Kameras, die in einem klassischen Rückspiegel integriert sind, durch die Zusammenführung der Bilder dem Fahrer zusätzlich einen Blick auf sein Fahrzeug – und zwar aus der Vogelperspektive.

Klingemann sieht in dieser Kombination die Schnittstelle für die nächste Generation von Fahrern, die möglicherweise die Funktionsvielfalt digitaler, kamerabasierter Spiegelersatz-Systeme anders werten wird. "Erst dann wird wahrscheinlich der klassische Rückspiegel endgültig seine Vorteile einbüßen."

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