Daimlers Truck-Chef Martin Daum rechnet in diesem Jahr mit großen finanziellen Einbußen durch fehlende Chips. "Das ist eine gewaltige Summe. Denn wir werden eine mittlere fünfstellige Zahl an Fahrzeugen weniger verkaufen als wir hätten können", sagte Daum im Interview mit der Automobilwoche. Bei einem angenommenen Durchschnittspreis von 100.000 Euro pro Fahrzeug sind dies mehrere Milliarden Euro Umsatz, die verloren gehen. Hinzu kommen unfertige Lkw. "Wir haben im Moment viele Fahrzeuge im Werk stehen, wo nur ein Teil fehlt. Diese Auslieferung hat oberste Priorität, weil die Lkw ja bereits verkauft sind", sagte Daum weiter.
Er rechnet für das Jahr 2022 mit weiteren Einschränkungen. Zwar gehe man von einer noch höheren Nachfrage aus. "Aber das Problem ist, dass jegliche Puffer abgebaut sind und derzeit viele Teile um die Welt geflogen werden. Wenn hier eine Störung auftritt, dann schlägt das sofort durch." Daher suche man im Moment nach Chips von Zweit- oder Drittlieferanten, um die Puffer wieder aufzufüllen.
Die Chipkrise kommt für Daum zur Unzeit, da sich die Sparte auf die Unabhängigkeit vorbereitet. Am 1. Dezember soll das Lkw- und Bus-Geschäft aus dem Konzern herausgelöst und als Daimler Truck Holding AG eigenständig werden. Am 10. Dezember gibt dann die Daimler AG die Eigentümerschaft ab und behält einen Anteil von 35 Prozent. Gleichzeitig erfolgt die Notierung an der Frankfurter Börse. Eine Aufnahme in den Dax ist für das erste Quartal 2022 vorgesehen. Daum: "Theoretisch verändert sich das Unternehmen ja nicht durch die Abspaltung, die Summe bleibt gleich. Aber da an der Börse sehr viel Psychologie mitspielt, bin ich auf die Kursentwicklung gespannt."
Herr Daum, was machen Sie am 10. Dezember?
Da bimmelt eine Glocke in der Frankfurter Börse und es wird ein sehr aufregender Tag. Es zeigt sich dann, wie sich der Wert des Aktienkurses zwischen der Daimler AG und der Daimler Truck Holding AG aufteilt. Theoretisch verändert sich das Unternehmen ja nicht durch die Abspaltung, die Summe bleibt gleich. Aber da an der Börse sehr viel Psychologie mitspielt und die Zukunftserwartungen eine große Rolle spielen, bin ich auf die Kursentwicklung gespannt.
Sie treten aus dem Schatten des Pkw-Geschäfts an die Spitze eines Dax-Unternehmens. Wie fühlt sich das an?
Sehr gut. Was mir am Spin-off gefällt, ist die Idee des Unternehmertums. Ich habe schon zuvor meine Bereiche, sei es das USA-Geschäft oder Unimog, wie ein Unternehmer geführt. Das bedeutet, dass nur das Ergebnis zählt und es keinerlei Entschuldigungen gibt. Genau diese Art von Verantwortung liegt mir und macht mir Spaß.
Sie haben vor wenigen Wochen die neue Zentrale bezogen, war das so geplant?
Nein, wir haben den Umzug schon vor Jahren entschieden, weil wir die in und um Stuttgart verstreuten Daimler Truck Einheiten bündeln wollten. Jetzt hat der Umzug sogar vor dem Börsengang geklappt und wir haben ein globales Headquarter. Das hat einfach große Vorteile. Ich sage immer, wenn man auseinander sitzt, redet man übereinander. Wenn man beieinandersitzt, redet man miteinander.
Wie sehr schmerzt, dass ausgerechnet jetzt die Chipkrise bremst?
Dieses Jahr ist es wirklich ein Kampf um jeden einzelnen Chip. Und es ist noch lange nicht vorbei. Wir haben aktuell viele Fahrzeuge im Werk stehen, wo nur ein Teil fehlt. Diese Auslieferung hat oberste Priorität, weil die Lkw ja bereits verkauft sind. Wir verhandeln mit unseren Lieferanten jede Woche aufs Neue, aber auch sie können nicht genau vorhersagen, wann es besser wird.
Was kostet Sie das in diesem Jahr?
Eine Menge Geld. Denn wir werden eine mittlere fünfstellige Zahl an Fahrzeugen weniger verkaufen als wir hätten können. Das ist eine gewaltige Summe. Und zweitens ist es eine wahnsinnige Ineffizienz in der Produktion. Dort sind wir normalerweise genau abgestimmt auf die Anlieferung der Teile. Durch den Chipmangel müssen wir fast fertig produzierte Lkw von der Linie nehmen und später wieder einreihen. Das ist ein enormer Aufwand. Gut ist, dass sich in der aktuellen Chipkrise unser Marktanteil nicht verändert, weil alle anderen dieselben Probleme haben.
Wie sieht es 2022 aus?
Wir gehen von einer noch höheren Nachfrage aus als dieses Jahr. Aber das Problem ist, dass jegliche Puffer abgebaut sind und derzeit viele Teile um die Welt geflogen werden. Wenn hier eine Störung auftritt, dann schlägt das sofort durch. Parallel müssen wir die Puffer wieder auffüllen. Im Moment suchen wir nach Ersatzchips von Zweit- oder Drittlieferanten.
Europa mit der Marke Mercedes galt in den vergangenen Jahren als Sorgenkind mit zu geringer Marge und schwindenden Marktanteilen. An welchen Stellschrauben wollen Sie da drehen?
Vieles haben wir schon erreicht. Der Actros hat seine Qualitätsprobleme überwunden und wieder einen Spitzenplatz im Premiumsegment der schweren Lkw. Das brauchte etwas Zeit, um verloren gegangenes Vertrauen wieder zu gewinnen. Das zweite Thema sind die Fixkosten. Wir hatten bei Mercedes zu viel Doppelarbeiten und zu viele Leute an Bord. Da sind wir sehr rigide vorgegangen.
Inwiefern?
Das hat zwei Komponenten. Auf der einen Seite müssen die Kosten gesenkt, auf der anderen Seite muss die Effizienz verbessert werden. Dazu haben wir ein Effizienzprogramm mit dem Prinzip der doppelten Freiwilligkeit aufgesetzt, mit dem wir bis Ende 2022 rund 300 Millionen Euro einsparen wollen. Hier kommen wir bei der Umsetzung gut voran.
Das betrifft aber nur die indirekten Bereiche, oder?
Ja, in den Werken sieht es anders aus. Hier schwankt die Zahl der Beschäftigten oft mit der Konjunktur. Wenn wir dort keine Chipprobleme hätten, könnten wir sogar im Dreischichtbetrieb produzieren. Deshalb kann die Zahl der Beschäftigten schnell mal um ein paar Tausend schwanken.
In den USA schaffen Sie die höchste Marge, was läuft da anders?
In den Jahren nach der Jahrtausendwende war es umgekehrt, da hatten wir in Europa zweistellige Margen und Freightliner stand auf der Kippe. Sie brauchen einfach das richtige Produkt und müssen streng auf die Kosten achten. Dazu kommt die Kundennähe als zentraler Faktor. Damit meine ich die komplette Organisation, nicht nur den Vertrieb. Jeder muss daran denken, wie wir den Kunden unterstützen können. Wir müssen alle Prozesse so problemlos wie möglich gestalten vom Kauf bis zur Garantieabwicklung. Dieses Denken hatten wir in Europa etwas verloren.
Der Absatz bei den Lkw stagniert seit Jahren um die halbe Million. Woher soll in Zukunft das Wachstum kommen?
Ich rede selten vom Wachstum beim Absatz. Viel wichtiger ist der Marktanteil. Am Ende geht es aber um Ertrag. Wir brauchen einen vernünftigen Gewinn, um die Investitionen der Zukunft stemmen zu können. Wo wir sinnvoll wachsen können, wollen wir das natürlich tun. Nehmen Sie als Beispiel den Markt der Lkw mit speziellen Aufbauten für Holztransport oder Bau. In den USA haben wir zwar im Sattelzugsegment über 50 Prozent Marktanteil, aber unter 30 Prozent bei Lkw mit speziellen Aufbauten etwa für Holztransport oder Bau. Mit neuen Produkten wollen wir unseren Anteil in Zukunft erhöhen. Das wird uns nach vorne treiben.
Wo sehen Sie weiteres Potenzial?
Wir glauben beispielsweise an Indien als Wachstumsmarkt. Gleiches gilt für Mexiko, die Türkei und Brasilien. Da müssen wir nur noch etwas Geduld haben, bis sich die Volkswirtschaften bewegen und die Stückzahlen nach oben gehen. Auch bei den Bussen können wir zulegen, wenn die Covid-Pandemie vorbei ist.
Wie soll das gehen?
Zum Beispiel sind wir in Nordamerika bei den Reisebussen kaum vertreten. Gerade auf den Überlandstrecken ist dies ein interessantes Konzept, wenn Flugreisen auf der Kurzstrecke und der Individualverkehr in Zukunft zurückgehen. Also haben wir hier zwei neue Busse von Mercedes auf den Markt gebracht und auch einiges investiert. Das machen wir aber nur, wenn gut Geld verdient werden kann und die Umsätze da sind. Wir rechnen hier mit einem schnellen Erfolg.
Wichtig ist auch China. Wann kommt der lange geplante Schwerlaster Actros?
Wir wollen Ende 2022 soweit sein. Wenn Sie einen Lkw mit einer komplett neuen und lokalen Lieferkette an den Start bringen wollen, müssen Sie mit vier Jahren kalkulieren. Wer das abkürzen will, zahlt am Ende meist drauf. Natürlich haben wir große Hoffnungen in dieses Fahrzeug. Bisher waren auf dem chinesischen Markt von rund einer Million verkauften Lkw pro Jahr nur etwa 10.000 importiert, weil das einfach zu teuer ist. Insofern erhoffen wir uns einen deutlichen Schub. Zu den Stückzahlen kann ich aber noch nichts sagen.
Aber Sie brauchen doch Wachstumsphantasien für die Börse!
Wir setzen gerade nicht darauf, was eventuell passieren könnte. Wir können allein mit unserem bestehenden Geschäft deutlich besser werden und unsere Profitabilität erheblich erhöhen. In einem starken Marktumfeld haben wir uns bis 2025 eine bereinigte Umsatzrendite von mehr als zehn Prozent vorgenommen. Das ist unsere Ambition und dafür haben wir weder das Potenzial aus dem autonomen Fahren in Nordamerika noch aus den erwarteten Marktanteilsgewinnen eingerechnet. Wir konzentrieren uns auf das, was wir selber in der Hand haben.
Gerade haben Sie den rein elektrischen Actros eingeführt. Wie viele werden Sie im nächsten Jahr verkaufen?
Die Nachfrage ist gut, wir reden hier von einer dreistelligen Zahl. Aber neben guten Produkten, die es jetzt gibt, müssen auch noch andere Voraussetzungen erfüllt sein. Wir werden noch erheblich in die Ladeinfrastruktur investieren müssen. Ich war am Wochenende mit meinem Elektroauto unterwegs und hatte nur noch wenige Kilometer Reichweite. Die erste Ladesäule war kaputt, die zweite besetzt von einem Langsam-Lader. Da kommt Reichweitenangst auf.
Wann kommt der Kipp-Punkt bei den elektrischen Lkw?
Das hängt maßgeblich von den Betriebskosten ab. Denn mit einem Lkw muss der Spediteur Geld verdienen. Manche Szenarien gehen von einer Kostenparität zwischen den Antrieben im Jahr 2025 aus. Doch das setzt voraus, dass der Strompreis günstiger wird und CO2 deutlich teurer. Außerdem muss der Strom aus regenerativen Quellen kommen, sonst macht das alles keinen Sinn. Hier muss die Politik noch nachlegen und beispielsweise die Maut vom CO2-Ausstoß abhängig machen. Wir jedenfalls sind bereit und haben dann die passende Technologie. Ende des Jahrzehnts könnten 60 Prozent unserer neu zugelassenen Flotte in Europa CO2-neutral sein.
Die Busbranche leidet derzeit besonders unter Corona, aber auch viele andere Bereiche. Wären Sie für eine Impfpflicht?
Ja, ich bin ganz klar für eine Impfpflicht. Wir sollten zum Schutz unserer Mitarbeiter sicher sein können, dass alle geimpft sind. Die 3G Regel bedeutet für die Unternehmen einen großen Aufwand bei der Kontrolle. Außerdem müssen wir zurück zum normalen Leben. Wir sehen es in unseren Werken, im Einzelhandel, bei den Kunden in der Busbranche. Einen weiteren Lockdown könnten wir uns kaum leisten. Wir müssen schnell zu Verhältnissen kommen, wo wieder normal gewirtschaftet werden kann.
Lesen Sie auch:
Daimler Truck verkauft Werk für Minibusse
Daimler Truck: Elektro-Lkw geht in Serie
Außerordentliche Hauptversammlung: Daimler-Aktionäre billigen Aufspaltung
Aus dem Datencenter:
Absatz mittlere/schwere Lkw und Busse in Europa 2020 nach Marken