Der Daimler-Konzern gehört nicht zu denjenigen, die in Sachen Elektromobilität von Anfang an vorne weg marschierten. Die 2014 eingeführte elektrische B-Klasse hatte einen Antrieb von Tesla, der Smart bleibt ein Nischenfahrzeug und der 2019 vorgestellte EQC als erstes Modell der Elektrofamilie hat bisher nicht überzeugen können. Weil er auf der für Verbrenner vorgesehenen Plattform basiert, muss er noch zu viele Kompromisse eingehen. Mit dem EQS stellt Mercedes am 15. April erstmals ein Elektroauto vor, dass von vornherein mit einem elektrischen Antrieb konzipiert wurde. Auch wenn die erste Mitfahrt wegen der Corona-Pandemie nur virtuell erfolgte, so steht jetzt schon fest: Nicht nur wegen des Hyperscreens muss sich die Konkurrenz aus den USA und China warm anziehen.
Mercedes stellt den EQS vor:
An der Spitze der Elektrobewegung
Es müssen nicht immer gleich Rekorde sein. Doch die Reichweite hat sich nun mal als Gradmesser für die Güte eines Elektroautos etabliert. Schließlich gilt die Angst, mit dem Auto liegen zu bleiben, immer noch als Hemmnis für den Umstieg auf Elektro. Mit der größeren der zwei angebotenen Batterien mit knapp 108 Kilowattstunden schafft der EQS nach WLTP beeindruckende 770 Kilometer und fährt damit selbst auf Augenhöhe mit dem Tesla Model S Plaid +, das Ende des Jahre auf den Markt kommt und nur wenig mehr schafft.
Mit 525 PS und einem Drehmoment von 850 Newtonmeter absolviert der EQS den Sprint auf 100 km/h in schnellen 4,3 Sekunden und kann diesen auch mehrfach hintereinander wiederholen. Die Höchstgeschwindigkeit ist bei 210 Stundenkilometer abgeregelt. Das reicht für ein sportliches Fahrgefühl, ohne das Auto zum Konkurrent des Porsche Taycan zu machen. Doch habe auch nicht im Vordergrund gestanden, sagt Holger Enzmann bei der virtuellen Probefahrt. Er ist Projektleiter für die neue Plattform EVA2, auf der später auch EQE und zwei SUV-Modelle basieren sollen, bei der virtuellen Probefahrt. Wie die neue S-Klasse ist auch der EQS für das automatisierte Fahren auf Stufe 3 ausgelegt. Dies soll möglich sein, sobald die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen sind.
Der EQS ist in großen Teilen vom Forschungsfahrzeug F015 abgeleitet, das auf der CES im Jahr 2015 für Furore sorgte. Dort war bereits die Idee des One-Bow-Designs zu sehen, die auch auf den EQS übertragen wurde. Das Konzept zeichnet sich durch völligen Verzicht auf Ecken und Kanten aus."Es war der Beginn des Progressive Luxury, das wir heute im EQS feiern wollen", sagt Steffen Köhl, Leiter des Außendesigns bei Mercedes. Markant sind die kurze Nase und der langgestreckte Körper. Mit 5,21 Metern ist das Fahrzeug nur wenig kürzer als die Langversion der S-Klasse.
Im glatten Frontgrill findet sich das Star-Pattern hinter einer Glasabdeckung, das auch im Innern wieder aufgenommen wird. Von oben betrachtet entspricht die Silhouette der skulpturalen Form eines Tropfens. Mit diesem Konzept bietet der EQS dem Wind kaum Widerstand und erreicht einen cw-Wert von 0,20, was laut den Designern von Mercedes Weltrekord für ein Serienauto ist und mit ein Grund für die große Reichweite. Da die Batterien flach im Boden sitzen, ist das Platzangebot im Innern entsprechend üppig. Der Kofferraum fasst 610 Liter, was auch für Reisen mit vier Personen locker ausreichen dürfte. Schade nur, dass der EQS auf Außenspiegel mit Kamera verzichtet und so ein wenig von seinem futuristischen Design einbüßt.
Das Cockpit wird vom riesigen Hyperscreen dominiert, den Mercedes bereits zur CES Anfang des Jahres vorgestellt hat. Er setzt Maßstäbe nicht nur in der Größe, sondern auch in der Anmutung der drei Displays. "Der MBUX Hyperscreen ist zugleich Gehirn und Nervensystem des Autos", sagt Mercedes-CTO Sajjad Khan. Im Vergleich zur S-Klasse sei nochmals eine neue Stufe erreicht worden. Mit acht Prozessoren und einem Arbeitsspeicher von 24 Gigabyte lehrt der Hyperscreen selbst speziellen Gaming-PCs das Fürchten. Der Algorithmus lernt und erkennt beispielsweise automatisch über GPS, wenn das Fahrwerk an einer Stelle auf dem Weg zur Arbeit wegen einer Unebenheit auf der Straße angehoben werden muss.
Um den Bildschirm herum regiert Luxus pur, der dem Leitgedanken der sinnlichen Klarheit folgt. Die Bedienungselemente an den Türen scheinen zu schweben, Lichtbänder durchziehen das Fahrzeug, auf Wunsch gibt es die Zierteiloberflächen mit 3D-Struktur. "Der EQS steht für sich allein als Hightech-Fahrzeug", sagt Interieur-Designer Peter Balko zur Frage der Abgrenzung mit der S-Klasse. Die Düsen der Klimaanlage in Turbinenform sollen einen spannenden Kontrast schaffen. Über allem steht das "Wrap around"-Design, in dem sich Fahrer und Passagiere geborgen fühlen sollen. So wird der EQS zur ultimativen Reiselimousine, die dank Elektroantrieb völlig lautlos dahingleitet. Die Türen lassen sich übrigens voll elektrisch öffnen und von innen wie außen bedienen.
Der große Vorteil eines E-Autos gegenüber dem Verbrenner ist das fehlende Motorengeräusch. Auch der EQS gleitet mit seinen mehrfach gedämmten Scheiben lautlos über die Straße. Wem die Ruhe im EQS aber auf Dauer zusetzt, der hat die Auswahl zwischen drei Audio-Profilen, die sich über den Hyperscreen ansteuern lassen. Bei "Vivid Flux" gleicht der Sound elektronischer Musik, die auch auf den Fahrstil reagiert und bewusst "sehr verspielt" gehalten ist, um den Fahrer bei Laune zu halten.
"Silver Waves" dagegen sorgt mit einer weichen und eleganten Klanguntermalung für möglichst große Entspannung. Wer in den Sportmodus schaltet und gerne auf das Gaspedal drückt, der kann entsprechend seiner aggressiven Grundhaltung das Programm "Roaring Pulse" wählen. Hier erinnert der Klang an große Verbrennungsmotoren gemischt mit Donnergrollen und Vulkanausbrüchen, wie die Klangdesigner erläutern. Der Sound ergießt sich dabei über 15 Lautsprecher des Burmester-Systems quasi dreidimensional in den Raum. Doch damit nicht genug. Über Software-Updates sollen in Zukunft weitere Klangwelten aufspielbar sein.
Um das Reisen auch auf langen Strecken so angenehm wie möglich zu gestalten, soll das Laden beim EQS so schnell und einfach wie möglich funktionieren. Im Netzwerk von Mercedes me Charge stehen weltweit über 500.000 Ladepunkte zur Verfügung, davon über 200.000 in Europa. Nach Anmeldung und Hinterlegung der Bezahlmethode kann an sämtlichen Ladestationen einfach abgerechnet werden.
Da der EQS mit einer Leistung von bis zu 200 kW geladen werden kann, stehen innerhalb von rund 15 Minuten bis zu 300 Kilometer Reichweite zur Verfügung. "Wir haben ein ausgeklügeltes Ladessystem gegen die Reichweitenangst geschaffen", so Enzmann. Über das Navigationssystem lassen sich leicht Ladestationen samt entsprechender Ladeleistung einsehen. Für die ersten drei Jahre sei das Laden bei Mercedes Me für EQS-Kunden inkludiert, wie Enzmann verspricht. Damit kopiert Mercedes das System von Tesla, mit dem zu Beginn sehr viele Kunden von der Elektromobilität überzeugt werden konnten. Beim Laden soll Grünstrom verwendet werden. Wo dieser nicht an der Ladesäule verfügbar ist, muss der Betreiber die Menge anschließend durch Grünstrom ersetzen.
Sportliche Auslegung, große Reichweite, ultimativer Reisekomfort: Mit dem EQS fährt Mercedes nicht mehr hinterher, sondern kann sich nach langem Zögern endlich an die Spitze der Elektrobewegung setzen. Ermöglicht wird dies durch die neue Plattform EVA2, die erstmals von vornherein auf einen elektrischen Antrieb ausgelegt wurde und größere Batterien sowie eine neue E/E-Architektur erlaubt. Zwar bringt Tesla mit dem Model S Plaid Ende des Jahres sein Luxusmodell als aufgefrischte Version mit noch mehr Leistung an den Start. Doch beim luxuriösen Interieur samt dem edlen Hyperscreen macht den Stuttgartern niemand was vor.
Neue Konkurrenten wie der Lucid Air, dessen "Dream Edition" in einer ähnlichen Liga spielen soll und noch mehr Leistung verspricht, müssen es erst noch in die Serienproduktion und in den Handel schaffen. Daran aber sind, wie das Beispiel Byton zeigt, schon viele Start-ups gescheitert. Am ehesten gefährlich werden könnte Mercedes der Nio ET7, der mit 150-kW/h-Batterie kommt und 1000 Kilometer Reichweite verspricht. Vor allem in China könnte das Marktanteile kosten. Der ET7 soll allerdings erst 2022 auf den Markt kommen, wenn der EQS längst bei den Kunden ist. Bei Mercedes ist man zuversichtlich, wie mit der S-Klasse das Luxussegment der Elektrofahrzeuge beherrschen zu können. "Der Kunde hat jetzt die Freiheit zur Wahl", sagt Holger Enzmann. "Ich bin überzeugt, dass jetzt genau der richtige Zeitpunkt für den EQS ist."
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