Zum Jahresende spaltet sich der Daimler-Konzern auf. Gleichzeitig soll der Umstieg auf die Elektromobilität deutlich beschleunigt werden. Nie zuvor hat sich das Unternehmen derart schnell verändert. Für Daimler-Betriebsratschef Michael Brecht ist es daher, als "hätten wir alle vier Jahreszeiten gleichzeitig."
Herr Brecht, wie ist die Stimmung unter den Mitarbeitern bei Daimler gerade?
Wenn man auf die Abspaltung der Truck-Sparte schaut, erlebe ich bei den Führungskräften im Nutzfahrzeugbereich eine richtige Aufbruchsstimmung, bei den Mitarbeitern die eine oder andere Sorge, was da kommt. Im Pkw-Bereich hinterlässt der Chipmangel durchaus Spuren, weil die Planbarkeit fehlt und sich die Situation praktisch täglich ändert. Dazu kommen Sparprogramme, die die Stimmung dämpfen.
Das Unternehmen ändert sich schneller als je zuvor. Kommen da alle mit?
Die Elektrifizierung, die Digitalisierung, die Aufteilung des Unternehmens, der Wegfall vieler Funktionen auf der einen Seite, das Entstehen von neuen zum Beispiel im Software-Bereich – diese Dynamik bringt schon viele Leute an den Rand des Begreifbaren. Das ist eine Konstellation, die ich so noch nicht erlebt habe. Im Moment ist es, als hätten wir alle Jahreszeiten gleichzeitig.
Was sind die großen Herausforderungen bei der Aufteilung?
Derzeit geht es vor allem darum zu entscheiden, wer aus den Zentralfunktionen der Holding zu den Trucks geht. Das betrifft etwa ein Drittel der 4800 Mitarbeiter. Da geht es etwa um den Bereich Entgeltabrechnung oder den Einkauf von Büroeinrichtung und Maschinen beispielsweise. Der Wechsel soll aber nicht erzwungen werden, sondern auf Freiwilligkeit beruhen. Ich bin zuversichtlich, dass uns dies gelingt, denn das Interesse an der Truck AG ist hoch.
Was bringt die Abspaltung den Mitarbeitern?
Das war für mich immer die große Frage. Die Kapitalmarktgeschichte ist sehr schnell geschrieben, denn der Börsenwert zweier Unternehmen ist immer höher als in einem Konglomerat. Aber es reicht nicht, sich zu fokussieren und ein paar Marktanteile zu gewinnen. Wir sind bei den neuen Technologien einige Jahre hinter den Pkw zurück, haben beispielsweise keinen eigenen elektrischen Antriebsstrang oder keine Batteriefertigung. Wir müssen hier viel nachholen. Mit dem Innovationsfonds haben wir die Zusage über 1,5 Milliarden Euro zusätzliche Mittel, mit denen wir dem Wettbewerb voraus sein können. Das wiederum kommt den Beschäftigten zugute.
Daimler wird bei den Pkw ein kleineres Unternehmen. Sollten Ola Källenius und der Vorstand weniger verdienen?
Warum? Wenn Sie in die Vergütungslandschaft im Dax schauen, sind wir im unteren Mittelfeld unterwegs. Wenn Sie weniger bezahlen, bekommen Sie auch die guten Leute an der Spitze nicht mehr. Natürlich ist das bei Gehältern jenseits von zwei Millionen Euro einem normalen Arbeiter immer schwer zu erklären. Ich finde es aber wichtig, dass sich ein großer Teil des Gehalts am Erfolg des Unternehmens bemisst. Denn das bedeutet, wenn der Vorstand mehr verdient, werden die Mitarbeiter über die Ergebnisbeteiligung davon profitieren.
Wie groß ist die Befürchtung, zum Übernahmekandidaten zu werden?
Momentan habe ich keine Angst, zum Übernahmekandidat zu werden. Allerdings gibt es auch keine absolute Sicherheit. Aber eine gute Bewertung am Kapitalmarkt hilft schon mal. Andererseits reicht heute schon ein kleiner Anteil, um auf einer Hauptversammlung Druck auszuüben. Aber der Grund für eine Übernahme ist ja oft die gewünschte Zerschlagung eines Unternehmens. Dieses Problem haben wir durch die Abspaltung gelöst. Zudem haben wir viele große und treue Investoren, auch wenn uns ein Ankeraktionär wie bei BMW vielleicht fehlt.
Trotz guter Geschäfte laufen diverse Sparprogramme mit Personalabbau? Haben Sie dafür Verständnis?
Wenn wir volle Auftragsbücher haben und die Gewinne sprudeln, wie soll die Belegschaft da Verständnis haben für Sparmaßnahmen, die über Jahre laufen sollen. Ich sage, Anpassungsprozesse müssen über die normale Fluktuation wie die Altersteilzeit gehen, aber nicht über teure Abfindungsprogramme. Aus meiner Sicht hätte man das schon lange stoppen können. Man gibt Hunderte von Millionen Euro aus, um Leute nach Hause zu schicken. Auf der anderen Seite stellen wir Tausende Software-Spezialisten ein. Das ist doch verrückt. Die Effizienz kann nicht der einzige Maßstab sein. Wir müssen doch schauen, dass wir die Menschen in neue Funktionen weiterentwickeln oder dass wir mit dem vorhandenen Personal einen zusätzlichen Mehrwert für den Kunden schaffen können.
Ola Källenius hat deutlich ehrgeizige Ziele in der Elektromobilität formuliert. Was bedeutet das für die Transformation?
Sie wird schon deshalb schneller gehen, weil die EU-Vorgaben deutlich strenger werden. Wenn der Kunde im Jahr 2029 zu 100 Prozent Elektro will, dann muss er das bekommen, sonst sind wir aus dem Spiel. Klar, in den Powertrain-Werken stellt uns das vor zusätzliche Herausforderungen. Wir müssen uns deshalb dringend über die Fertigungstiefe unterhalten. Es reicht nicht mehr, einen elektrischen Antriebsstrang ohne den Motor und Inverter zu machen. Da ist Tesla ein Vorbild, weil sie fast alles selber machen. Warum sollen wir weiter Komponenten von der Stange kaufen, wenn wir uns dadurch differenzieren und Beschäftigungsprobleme lösen könnten?
Was gehört noch dazu?
Warum machen wir den Kuchen nicht größer, in dem wir in den Bau von Ladesäulen einsteigen und die dazugehörigen Serviceleistungen anbieten bis hin zu Betriebshöfen. Wir müssen das gesamte Ökosystem der Elektromobilität abdecken.
Woher kam der Sinneswechsel, auch Sie waren ja immer für Technologieoffenheit?
Die Technologieoffenheit hat sich durch die Vorgaben der Europäischen Union ein Stück weit erledigt. Die ganze Zeit hat man uns verprügelt, dass wir zu langsam sind. Das wollen wir uns nicht länger anhören. Insofern ist das der richtige Schritt. Aber klar ist auch, dass wir auch noch über 2030 hinaus Verbrennerautos anbieten müssen, wenn der Kunde sie haben möchte. Es wird Märkte geben, die sich schneller entwickeln und langsamere Märkte. Das ist letztlich auch eine Frage der Infrastruktur. Ohne eine flächendeckende Infrastruktur wird es keinen schnellen Hochlauf von Elektromobilität geben können.
Ist Daimler ohne eine S-Klasse überhaupt denkbar?
Ein ganz klares Nein. Wir müssen schauen, wie sich die Modelle weiterentwickeln. Aus meiner Sicht sind EQS und die S-Kasse nicht vergleichbar, wenn man beispielsweise den Komfort und das Wohlfühlambiente in der S-Klasse nimmt. Wahrscheinlich wird eine elektrische S-Klasse im Jahr 2030 nochmals anders aussehen als der EQS jetzt. Aus meiner Sicht gilt es das komplette System zu durchdenken und aufeinander abzustimmen.
Auch eine eigene Zellfabrik ist in Aussicht, wo soll die stehen?
Am günstigsten wäre es, wenn die Batteriezellfabrik in der Nähe eines Batteriemontagewerks steht, weil es dann kaum Logistikkosten gibt. Grundsätzlich hat aber jeder Standort des Konzerns ein Recht auf Zukunftssicherung – von limitierten Flächenkapazitäten mal abgesehen. In diesem Zusammenhang muss auch das Beihilfe-System der EU dringend geändert werden. Es kann nicht sein, dass alle Gelder in strukturschwache Regionen in Europa fließen. In Polen und Ungarn ist die Arbeitslosigkeit längst nicht mehr höher als hier. Wir brauchen auch Förderungen an Standorten, wo schon seit Jahren aus eigener Kraft in neue Technologien investiert wird. Sonst haben klassische Automobilregionen wie Stuttgart auf Dauer keine Chance.
Sie hatten eine Zellfabrik seit Jahren gefordert, sehen Sie sich bestätigt?
Aber klar, das freut mich schon, dass es jetzt aus meiner Sicht in eine bessere Richtung geht. Allerdings hatten wir bisher keine wirklichen Alternativen zu Partnern wie CATL, weil wenig Hersteller über das notwendige Know How verfügten. Daher müssen wir eine eigene Zellchemie entwickeln, um einen Wettbewerbsvorteil zu haben. Deshalb ist es richtig, dass wir für den Standort Untertürkheim ein Zell-Technikum und eine Prototypen-Fertigung einrichten. Dadurch bekommen wir auch die nötige Prozesserfahrung, um die Produktion in einer zukünftigen eigenen Zellfabrik zu optimieren. Das Rennen um die beste Zelle wird noch lange andauern.
Herr Brecht, was wird aus Ihnen nach der Abspaltung?
Es ist ja kein Geheimnis, dass ich heute schon Trucker bin. Das werde ich bleiben. Wir werden nach der Abspaltung zwei Gesamtbetriebsräte brauchen. Wer den beiden Gesamtbetriebsräten vorsitzen wird, klären wir nach dem Spin-off in einer konstituierenden Sitzung.
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