Im Jahr 2050 geht es darum, was wir tun, während wir in Bewegung sind, sagt der Chef der Strategieberatung Thomsen Group.
Herr Thomsen, wie bewegen wir uns im Jahr 2050?
Konzentriert, weil wir dabei arbeiten. Amüsiert, weil wir auf den Scheiben einen Kinofilm schauen. Und pünktlich, weil Staus der Vergangenheit angehören. In diesem "Moved Life", also dem bewegten Leben, ist Mobilität zur Selbstverständlichkeit, ja zur Nebensächlichkeit geworden. Es geht vielmehr darum, was wir in der Bewegung tun. Transportmittel werden weniger wichtig, auch die Grenzen zwischen Bahn, Flugzeug und Auto werden fließender.
Trotzdem brauchen wir ja „Gefäße“ für den Transport. Welche werden das sein?
Wenn wir auf 2050 schauen, sehen wir Flugtaxis ebenso wie vollautonom fahrende Fahrzeuge. Ganz wichtig ist dabei, dass Besitz, und damit auch der eines Autos, erheblich an gesellschaftlicher Bedeutung verliert. Stattdessen geht es um das Benutzen. Und wenn ich doch eines besitze, kann ich es, nachdem es mich beispielsweise zum Tennisplatz gefahren hat, auf Tour schicken und als Taxi andere Menschen transportieren lassen. So steht ein Auto, anders als heute, nicht jeden Tag 23 von 24 Stunden sinnlos herum, sondern finanziert sich sogar selbst.
Schon heute gibt es viele Mobilitätsdienste von Carsharing bis E-Scooter. Nach der Goldgräberstimmung ist Ernu¨chterung eingekehrt. Warum?
Man muss zwischen kurzfristigen Trends und "Future Assets", also langfristigen gesellschaftlichen Entwicklungen, unterscheiden. Über allem steht, dass ein Leben in Bewegung ganz normal sein wird. Auf dem Weg dahin gibt es Modeerscheinungen wie die E-Scooter, die derzeit die Städte fluten. Immerhin entsprechen sie dem zunehmenden Wunsch, zu benutzen statt zu besitzen. Erfolgreich werden aber nur jene Dienste sein, die eine breite Verfu¨gbarkeit bieten können. Wenn ich nur noch selten ein Fahrzeug vor meinem Haus erwische, wird das Konzept unattraktiv, eine Spirale nach unten setzt ein.
Gerade Daimler und BMW wollten hier gemeinsam mitmischen, scheinen derzeit aber ihre Rolle zu überdenken. Ist das sinnvoll?
Ich habe die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als ich sah, was Kunden erleiden mussten, als Car2go und DriveNow ihre App-Dienste fusionierten. Autos, die es gar nicht gab, die nicht starteten oder deren Nutzung sich nicht beenden ließ. Und das Ganze, nachdem kurz zuvor das USA-Geschäft eingestampft wurde. Natürlich ist es sinnvoll, betriebswirtschaftliche Realitäten zu akzeptieren. Allzu oft scheitert jedoch das Richtige am falschen Timing. Entscheidende Antworten von Zukunftsforschung müssen deshalb die Überschrift tragen: Nicht zu spät. Aber auch nicht zu früh!
So wappnet man sich vor der Konkurrenz?
Mit dem Druck des Strukturwandels hat sich der Fokus der Hersteller verschoben, wieder hin zum klassischen Autobau. Bei Mercedes und BMW sehen wir angesichts der gescheiterten Zusammenarbeit bei Fahrassistenzsystemen sogar, dass sie sich wieder voneinander entfernen. Das ist fatal, denn die wahre Konkurrenz lächelt nicht in Deutschland, sondern in China!
Warum kommen die deutschen Hersteller nicht zusammen?
Unsere Unternehmensgruppe beobachtet hier immer noch eine mangelnde Bereitschaft, Veränderungsprozesse proaktiv mit zu gestalten. Auch bei der E-Mobilität haben die deutschen Hersteller lange versucht, den Entwicklungen auszuweichen. Wie sehr sie an alten Denkstrukturen hängen, lässt sich auch an Details im Konzeptauto Mercedes Vision AVTR sehen, das Anfang des Jahres bei der CES in Las Vegas gezeigt wurde. Es soll weit in die Zukunft weisen, hat aber immer noch die Lenkrad-Funktion an Bord. Und man sitzt – wie damals schon Pferdekutscher – in Fahrtrichtung, was 2050 so veraltet wirkt wie heute ein Nokia-Handy.
Ist es nicht legitim, nur Autohersteller bleiben zu wollen?
Es geht um eine Schlüsselindustrie in Deutschland und damit auch um Arbeitsplätze – bis zu 3,8 Millionen. Die Automatisierung der Produktion wird weitergehen, da braucht es kaum mehr Menschen. Wenn deutsche Hersteller nur noch die dumme Hülle herstellen, dann werden sie zur Bedeutungslosigkeit degradiert. Doch das muss nicht so sein. Allerdings setzt das Ernten ein Säen voraus.
Haben Daimler und Co. hier also geschlafen?
Die Kooperation von Mercedes mit Nvidia ist ein wacher Schritt, um aufzuholen. Dass Ex-Nvidia Partner Elon Musk sich genötigt sah, die Tesla Entwicklungen über den grünen Klee zu loben, laut Nvidia gar mittels Vergleich von „Äpfel und Birnen“, deute ich als gutes Zeichen. Klar weiß die Konkurrenz um die Kompetenzen der deutschen Industrie. Aber perfekte Spaltmaße werden niemals höchste Reichweiten schlagen können. Und wer will schon Kabelbäume von 3000 Meter Länge in seinem herkömmlichen Auto durch die Gegend chauffieren, wenn bei Tesla auch 100 Meter reichen.
Das wird den meisten Automobilherstellern kaum gefallen.
Es geht hier ja nicht um einen Beauty-Contest, welcher Berater die Gefahren am besten herunterspielt. Ja-Sager werden der deutschen Schlüsselindustrie kaum helfen. Vielmehr muss es doch darum gehen, Chancen des Wandels zu nutzen! Und das wird jenem Automanager gelingen, der bereit ist, zuzuhören, anders zu denken, der schließlich den Mut hat, das (vermeintlich) Unmögliche zu wollen.
Welche Rolle werden Marken wie BMW oder Mercedes 2050 noch spielen?
Das hängt von sieben Faktoren ab. Erstens, schaffen sie es, eine "Kidability" zu entwickeln, also kindliche Offenheit? Da gibt es Nachholbedarf. Zweitens, bekommen sie den intelligenten Umgang mit Digitalisierung und Datensicherheit hin? Dann sehe ich viele Chancen. Drittens die Frage, inwieweit die Unternehmen faktisch eine gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. 2050 werden nur noch solche Unternehmen erfolgreich sein. Viertens: "Wachsen oder weichen", etwa durch sinnvolle Fusionen statt im Alleingang. Fünftens, "E" muss für emissionsfrei und nicht für E-Mobilität stehen, jene ist nur ein Übergang.
Und die letzten beiden Voraussetzungen?
Ganz wichtig: Neue Geschäftsmodelle, die heute und in Zukunft funktionieren. Und schließlich das, was wir Faktor sieben nennen: Nur wer "Moved Live" versteht, wird wieder Spitzenplätze unter den Industrienationen einnehmen. Und so beliebt sein wie die häufigste Lieblingszahl. Die Glückszahl sieben, die dem wichtigsten Gegner hingegen als Unglückszahl gilt: China.
Lesen Sie auch:
"Schritt nach vorne": ADAC begrüßt neue Möglichkeiten für Fahrdienst-Angebote
McKinsey-Studie: Die Aufgaben der Autobranche in Post-Corona-Zeiten
Carsharing-Branche im Umbruch: Share Now will sich nicht am Preiskampf beteiligen
Aus dem Datencenter:
Marktanteile nach Antriebsarten in Deutschland – Juni 2020 und Januar bis Juni 2020