Die Automobilindustrie erwartet eine wachsende Bedrohung ihrer Lieferketten durch Ausfälle bei den Lieferanten. Doch die Unternehmen halten sich bislang mit einem aktiven Management dieses Risikos zurück. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Zeppelin Universität Friedrichshafen in Zusammenarbeit mit der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte ("Lieferantenrisikomanagement in der deutschen Automobilindustrie 2020") unter Fahrzeugherstellern und Zulieferern, die im Zeitraum von Juni bis August 2019 durchgeführt wurde.
"Wir registrieren aktuell eine erhöhte Nachfrage zum Thema Zulieferer-Risikomanagement. Aktuell ist unklar, welche und wie viele Unternehmen beim (Neu-) Anlauf der Produktion in Schwierigkeiten geraten, weil diese auf der einen Seite ihre Unterlieferanten bezahlen müssen und gleichzeitig Kunden unter Umständen sehr kurzfristig von ihren Planungen abweichen", erklärt Philipp Kinzler, Partner bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte und Studienautor.
Insgesamt haben 92 Prozent der Befragten in den letzten fünf Jahren – trotz der überwiegend guten Konjunktur – einen (starken) Anstieg (76 Prozent beziehungsweise 16 Prozent) des Lieferantenrisikos wahrgenommen. Zudem erwarten alle Teilnehmer der Befragung eine weitere (56 Prozent) beziehungsweise sogar eine starke Zunahme (44 Prozent) dieses Risikoaspekts in den nächsten fünf Jahren.
Unterschiedliche Bewertung
Bei den Teilnehmern der Studie war dennoch eine Entkopplung zwischen der Wahrnehmung des Lieferantenrisikos für die Automobilindustrie insgesamt und der Bedeutung für das eigene Unternehmen festzustellen. So bewertet ungefähr ein Drittel der Befragten die Lieferantenrisiken für das eigene Unternehmen gegenwärtig als "hoch" oder "sehr hoch", während die Gefahren für die Automobilindustrie insgesamt von über der Hälfte der Teilnehmer als "hoch" oder sogar "sehr hoch" gesehen wird.
"Unternehmen, die an einer Studie zum Thema Lieferantenrisikomanagement teilnehmen, haben sich meistens zuvor mit dem Thema befasst. Mitunter könnte auch die gute Geschäftslage in den letzten Jahren dazu geführt haben, dass einige Unternehmen das Lieferantenrisiko nicht oder nicht ausreichend beleuchtet haben und es daher nicht richtig bewerten", erklärt Studienautor und Deloitte-Berater Stephan Schulz.
Gefahr erkannt, aber zögerliche Reaktionen
Hintergrund für die zunehmend kritische Einschätzung des Lieferantenrisikos in der Automobilbranche ist der konjunkturelle Abschwung, der bereits 2019 zu beobachten war. Hinzu kommt aktuell die allgemeine Ungewissheit, ausgelöst durch die Covid-19-Pandemie. "Vor dem Hintergrund von Covid-19 fragen sich die Unternehmen jetzt aber stärker, wie es um die Liquidität ihrer Lieferanten bestellt ist", so Schulz.
Mittlerweile überwachen beinahe drei Viertel (72 Prozent) der Befragten ihr Lieferantenrisiko dediziert beziehungsweise gehen 20 Prozent der Studienteilnehmer mit Mitarbeitern Aufgaben rund um das Lieferantenrisikomanagement (LRM) an. Umgekehrt bedeutet es jedoch auch, dass 28 Prozent ihre Lieferantenrisiken nicht überwachen. Da nur 16 Prozent der Teilnehmer die Lieferantenrisiken für ihr Unternehmen als niedrig bewerten, liegt laut Studie der Schluss nahe, dass einige Unternehmen die Notwendigkeit, ihr Risiko aktiv zu managen, erkannt, aber ein entsprechendes Lieferantenrisikomanagement (noch) nicht etabliert haben. "Der Fokus der Unternehmen liegt vor allem auf den Themen Qualität und Produktion, gefolgt von logistischen Risiken. Die Stabilität der Lieferanten steht seltener im Fokus", erklärt Schulz.
Finanzielle Stabilität kein Schwerpunktthema
"Aus unserer Sicht wird die Investition in ein umfassendes Lieferantenrisiko- Managementssystem oftmals verschoben oder nicht getätigt, weil sich die Rendite erst im Ernstfall zeigt – dann jedoch umso deutlicher", nennt Kinzler als Erklärung.
Die Überwachung der finanziellen Stabilität der Lieferanten ist für keinen Befragten ein Schwerpunktthema mit höchster Priorität im Rahmen der Risikostrategie. Für immerhin 24 Prozent hat sie "Priorität 2", für 60 Prozent "Priorität 3".
Im Rahmen der Risikoidentifikation ist die finanzielle Stabilität der Lieferanten in der Automobilindustrie in vielen Fällen nicht primär wichtig, für 76 Prozent der Teilnehmer spielt sie keine oder nur eine durchschnittliche Rolle. Konkret bedeutet dies, dass gut die Hälfte der befragten Unternehmen die finanzielle Situation ihrer Lieferanten gar nicht beobachten, etwas mehr als ein Viertel immerhin ihre Hauptlieferanten und ein Fünftel sämtliche Tier-1-Lieferanten und diejenigen jenseits von Tier 1, die für die Supply Chain relevant sind, im Auge haben.
Nur kleiner Teil der Lieferanten wird überwacht
So erklärte ein Teilnehmer auf die Frage, inwieweit die finanzielle Stabilität im Fokus des Lieferantenrisikos ist: "Mir muss echt langweilig sein, um die finanzielle Stabilität meiner Zulieferer zu überprüfen."
Insgesamt scheint ein deutlich kleinerer Teil des Lieferantennetzwerkes beobachtet zu werden, als nach eigener Überzeugung eigentlich notwendig wäre. Als erforderlich wird mehrheitlich (68 Prozent) eine Sichtbarkeit bis Tier 3 beziehungsweise noch darüber hinaus gesehen, wobei aktuell nur 16 Prozent ihr Lieferantennetzwerk bis Tier 3 beobachten (können).
Hier unterscheidet sich die Automobilindustrie nicht wesentlich von der Gesamtindustrie. In einer Umfrage mit 504 Einkaufsleitern (CPOs) in 39 Ländern bemängelten 2018 insgesamt 65 Prozent eingeschränkte oder fehlende Transparenz über ihre Tier-1-Lieferanten hinaus.
Künstliche Intelligenz als Game Changer
Im Zeitalter von Big Data und künstlicher Intelligenz haben Tools zur Lieferantenbeobachtung das Potenzial, durch die Verbindung und Analyse vorhandener Lieferantendaten und un- sowie teilstrukturierter Datenquellen ein umfassenderes Bild des Zuliefernetzwerks zu bieten. "Künstliche Intelligenz kann hier der Game Changer sein", erklärt. Wolfgang H. Schulz von der Zeppelin Universität Friedrichshafen.
Bezüglich der allgemeinen Bedeutung von KI gibt es bei den Befragten eine sehr einhellige Meinung: Beinahe alle erwarten signifikante, also hohe (56 Prozent) oder sehr hohe (36 Prozent) Auswirkungen durch deren Einsatz. Ebenfalls große Übereinstimmung herrscht über die gegenwärtigen und zukünftigen Anwendungsgebiete von KI im Bereich des Lieferantenrisikomanagements. An erster Stelle steht dabei die Erstellung von Risikoprognosen von Lieferanten und Märkten, gefolgt von der Informationsbeschaffung über Lieferanten und der Interpretation der für die Risikobeurteilung gesammelten Informationen hinsichtlich ihrer Relevanz.
KI wird beim Lieferantenrisikomanagement kaum genutzt
Auch wenn große Übereinstimmung zu Nutzen und Anwendungsbereichen von KI im Lieferantenrisikomanagement herrscht, so setzen zwar 44 Prozent der Befragten KI bereits in der einen oder anderen Form ein, aber nur vier Prozent im Zusammenhang mit ihrer Supply Chain und nur drei Prozent im Bereich des LRM.
Über die vorgenannten Informationen hinaus wurden von dem größten Teil der befragten Experten (84 Prozent) keine weiterführenden Informationen hinsichtlich gegenwärtiger und zukünftiger Anwendung von KI-Tools gegeben. Die mangelnde Auskunft wird oft mit dem Hinweis auf die Vertraulichkeit dieser Informationen und den Schutz von Wettbewerbsvorteilen begründet. Denkbar ist auch, dass einige der Befragten beim Thema KI noch nicht so weit sind, wie sie sein möchten.
"KI ist im Lieferantenrisikomanagement durchaus ein Vorteil, insbesondere wenn man vor seinen Wettbewerbern Lieferanten identifiziert, die auszufallen drohen, und als Erster alternative Lieferanten oder alternative Logistik entwickelt und bindet", verdeutlicht Kinzler.
Neues Werkzeug soll Risiken frühzeitig sichtbar machen
Bei Deloitte wird derzeit ein KI-basiertes LRM-System entwickelt "mit dem Ziel, potenzielle Risiko-Lieferanten frühzeitig zu identifizieren und Lieferketten sichtbar zu machen", erklärt Kinzler. Schulz ergänzt: "Wir messen dem Thema KI eine große Bedeutung bei und forcieren derzeit ein großes Projekt, in dem wir verschiedene Software-Werkzeuge, die wir schon im Bereich "Lieferantenrisiko-Management" nutzen, mit einem Lernalgorithmus verknüpfen. Mit den bestehenden Tools lässt sich eine sehr hohe Automatisierung in der Lieferantenbeobachtung erreichen, mit dem Lernalgorithmus die Prognosegenauigkeit verbessern."
Laut Kinzler wurde das Thema KI bei Deloitte in der globalen Struktur schon vor einiger Zeit forciert und ein entsprechendes Projekt initiiert. "Hiervon versprechen wir uns viel, weil auf dem Markt aktuell noch ein integriertes System fehlt, das verschiedene Quellen effizient/effektiv miteinander verbindet. Natürlich trägt auch die gegenwärtige COVID-19-Pandemie und die daraus resultierenden Unsicherheiten dazu bei, die Bedeutung des Themas nochmal enorm herauszustellen."
Allerdings sei noch schwer zu sagen, wann wir ein solches, voll integriertes Gesamtpaket angeboten werden kann, "weil sich das Werkzeug auch mit den Anforderungen der Kunden weiterentwickeln soll. Einzelne Komponenten davon haben sich allerdings schon im Kundeneinsatz sehr gut bewährt".
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