Die Corona-Pandemie hält die Entwicklungsabteilungen bei Fahrzeugherstellern, Zulieferern und Entwicklungsdienstleister auf Trab. "Unsere Beobachtung ist, dass die Corona-Pandemie wie ein Katalysator für die Digitalisierung in der Entwicklung wirkt und sie auf mehreren Ebenen beschleunigt", erklärt Matthias Kratzsch, Geschäftsführer Technik des Entwicklungsdienstleisters IAV. Das beginne bei den Arbeitsweisen und -methoden bis hin zur Virtualisierung und Automatisierung von Entwicklungs- und Testprozessen.
"Die Unternehmen, die den Trend zum mobilen Arbeiten bereits in der Vergangenheit aktiv angegangen sind, können der Corona-Krise besser trotzen", ist er überzeugt. IAV-Mitarbeiter können laut Kratzsch praktisch von überall an digitalen Meetings und Workshops teilnehmen.
Prozesse werden beschleunigt
Insbesondere in einer Phase wie jetzt mit Kontaktbeschränkungen und eingeschränktem Handlungsradius zeige sich der Vorteil moderner Prüfeinrichtungen und Testverfahren. "Sie lassen uns nachbilden, was wir in der realen Umgebung momentan gar nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen testen könnten." Mittels Remote-Zugriff sei es den Mitarbeitern möglich, praktisch weltweit auf das System, die Parameter und die Daten zuzugreifen. "Das reduziert den Personaleinsatz vor Ort deutlich und beschleunigt zugleich die Prozesse."
Die veränderte Arbeitsweise sorgt auch für beschleunigte Prozesse. "Die mobile Arbeitsweise verbunden mit agilen Prozessen führt in einigen Teilen zu deutlichen Effizienzgewinnen", so Kratzsch. Er nennt ein Beispiel: "Wo unsere Mitarbeiter früher mehrere Stunden für ein physisches Meeting unterwegs waren, nehmen sie heute an einem digitalen Workshop teil und können danach die Arbeit an ihren Kundenprojekten fortsetzen."
Mehr Zeit für spannende Aufgaben
Der Trend zur Automatisierung habe Entwicklungs- und Testprozesse zwar bereits vor Corona deutlich beschleunigt, nehme aber jetzt nochmals an Fahrt auf. "Die Automatisierung ersetzt nicht unsere hochqualifizierten Mitarbeiter, sondern gibt ihnen mehr Zeit für die wirklich spannenden Aufgaben." Wo früher ein Mitarbeiter den Test händisch durchführte, spiele heute die Software den Testprozess durch. "Unsere Mitarbeiter nutzen die gewonnene Zeit zum Beispiel für die Fehleranalyse und -behebung. Das führt zu einer Beschleunigung des Entwicklungsprozesses bei gleichbleibender, in Teilen sogar besserer Qualität", resümiert Kratzsch.
Auch beim Engineeringunternehmen Edag stellt man positive Effekte fest. "Die aktuelle Pandemie wirkt wie ein Katalysator auf den ohnehin dynamischen Digitalisierungstrend der Branche. Dies zeigt sich besonders in der Arbeitswelt durch den verstärkten Einsatz von mobilem Arbeiten", erklärt Cosimo De Carlo, CEO der Edag Group. Die aktuelle Marktsituation zeige, dass mobiles Arbeiten – near- und offshore – die gefragten Ergebnisse liefert, so dass die Automobilindustrie das Vertrauen in die Möglichkeiten des Outsourcings weiter ausbauen werde. "Das wird sicherlich den EDL-Markt beschleunigen, damit die Kunden deren Kosteneffizienzziele schneller erreichen können", ist De Carlo zuversichtlich.
Mehr Effektivität im Tagesgeschäft
Zudem sorge Corona auch für eine neue Priorisierung der F&E Ausgaben. "Sicher werden die Entwicklungsbudgets sich noch stärker zu Gunsten der Zukunftsthemen wie zum Beispiel Connectivity, ADAS und Embedded Software verschieben", meint der Edag-Chef. Ferner werde die Notwendigkeit an Effizienzsteigerung und Flexibilität in der Produktion auch auf Themen wie Smart Factory und Industrie 4.0 eine besondere Aufmerksamkeit richten.
Die Substitution von Geschäftsreisen und Meetings durch Video- und Telefonkonferenzen hat beim Entwicklungsdienstleister jedenfalls ein deutliches Plus an Effektivität im Tagesgeschäft gebracht. "Sicher wird in der einen oder anderen Situation der persönliche Kontakt weiterhin nötig sein; das digitale Arbeiten in der Corona-Zeit hat uns aber gezeigt, dass hier Effizienzgewinne möglich sind, ohne dass die Projektqualität leidet", stellt De Carlo fest.
Zugriff auf Entwicklungsdaten in Echtzeit
Beim Zulieferer Webasto gab es in den einzelnen Funktionen, unter anderem im Bereich Forschung und Entwicklung, bereits vor Ausbruch der Corona-Pandemie einen relativ hohen Digitalisierungsgrad, so dass der Übergang ins Mobile Office sowie die räumliche Trennung unter technischen Gesichtspunkten keine Hürde darstellte, heißt es beim Unternehmen.
"Wir haben dadurch jedoch gesehen, dass es einige Schnittstellen technischer oder organisatorischer Art gibt, die noch einer Harmonierung beziehungsweise Optimierung bedürfen, so dass durchgängige, schlanke und funktionsübergreifende Prozessketten hochautomatisiert ablaufen können", erklärt Vorstandschef Holger Engelmann. Dazu gehöre auch eine einheitliche Nomenklatur sowie der Zugriff auf Entwicklungsdaten in Echtzeit.
Engelmann registriert eine Beschleunigung bei Prozessen, die eine standortübergreifende Zusammenarbeit erfordern. "Hier geht es weniger um den Einsatz neuer Werkzeuge, sondern mehr um die Optimierung bestehender Tools und die höhere Akzeptanz existierender Werkzeuge bei den Anwendern."
Das vernetzte Fahrzeug entsteht vor allem am Rechner
Beim Fahrzeughersteller Daimler stehen Digitalisierung und Elektrifizierung vor und nach Corona im Hauptfokus der Entwicklungsarbeit. "Die Corona-Tage haben uns noch intensiver über die Nutzung von digitalen Werkzeugen nachdenken lassen. Im Kern folgen wir der Vision, ein Fahrzeug weitgehend im virtuellen Raum zu entwickeln, zu erproben und die Produktion zu simulieren", erklärt Markus Schäfer, Mitglied des Vorstands bei Daimler und und Mercedes-Benz sowie verantwortlich für die Daimler-Konzernforschung.
So entstehen im Design neue Modelle am Computer, Fahrerassistenzsysteme werden sowohl digital simuliert als auch real auf der Straße getestet und Crashs werden erst am Laptop berechnet, bevor wir dann echte Fahrzeuge in der Crashhalle gegen die Barriere fahren. "Das vernetzte Fahrzeug entsteht ganz stark am Rechner. Wir alle in der Entwicklung arbeiten in unserem weltweiten RD-Netzwerk seit Jahren digital. Das hilft uns jetzt natürlich während der Corona-Krise", so Schäfer.
Das persönliche Gespräch kann nicht digital ersetzt werden
"Überall dort, wo wir uns wegen Corona nicht physisch treffen können, arbeiten wir intensiv digital zusammen, sei es per Telefon oder per Videokonferenz. Was die digitale Zusammenarbeit angeht, haben wir während der Pandemie schon viel positive Erfahrungen gemacht", so der Entwicklungschef. Nach Corona werde der Konzern die technischen Möglichkeiten der Digitalisierung verstärkt nutzen und vor allem Reisen – als ein Beispiel – reduzieren. "Aber nicht immer und überall – denn das persönliche Gespräch, der analoge Austausch vor Ort, kann nicht dauerhaft digital ersetzt werden."
Beim Bosch-Tochterunternehmen Bosch Engineering wird bereits seit mehreren Jahren an einer durchgängigen digitalen Entwicklung gearbeitet. "Daher konnten wir sehr schnell auf ein nahezu vollständiges mobiles Arbeiten umstellen, ohne dass für unsere Kunden Konsequenzen spürbar waren", heißt es beim Entwicklungsdienstleister. Zudem seien es viele der Mitarbeiter gewohnt in Netzwerken (cross-domain, sowie international) zu arbeiten, so dass die Zusammenarbeit via Skype und MS Teams zum Standard gehöre.
Eigenes System entwickelt
Digitalisierung bedeutet für Bosch auch ein cloudbasiertes Arbeiten unter Ausnutzung der Connectivity der Fahrzeuge schon in der Entwicklungsphase. "Mit Corona hat dies mit Sicherheit einen weiteren Push erhalten, da sehr schnell und flexibel gearbeitet werden kann und auch aufwändige Datenverarbeitung in zentralen Servern erfolgt", heißt es weiter. Hierzu haben das Unternehmen ein eigenes System, Calponia, entwickelt, welches zeitnah breiter in den Markt eingeführt werden wird.
"Ein weiterer sehr wichtiger Aspekt ist für uns die Nutzung von realen "Dingen" - Fahrzeuge, Prüfstände) mit der Ergänzung von Simulation, unabhängig ob Powertrain, Chassis, Fahrerassistenz oder anderen Domänen", so das Unternehmen. In Kombination mit fachbereichsspezifischen Tools sei es den Mitarbeitern damit möglich Cross-Domain, Standort- oder auch Regionen übergreifend zu arbeiten. So sei beispielsweise eine Zusammenarbeit am virtuellen Versuchsträger im Cross-Domain Team und externem Support ohne physische Präsenz umsetzbar. "Auch der Datenaustausch über verschiedene Sharing Tools in Echtzeit ermöglicht ein virtuelles Arbeiten selbst bei komplizierteren Themen und bieten damit eine gute Alternative zum Arbeiten im Projektteam oder auf der Projektfläche“, heißt es bei Bosch Engineering. Damit würden auch die Workflows zunehmend digitalisiert.
Verstärkte Auseinandersetzung mit dem Thema Digitalisierung
"Sicher ist, dass Corona die Akzeptanz und die Möglichkeiten des mobilen Arbeitens und Remote Arbeitens erhöht hat und wir glauben auch, dass das nachhaltig wirkt. Inwieweit in der jetzigen Zeit entstandene Arbeitsweisen auch nach Corona beibehalten werden, ist derzeit schwer zu beurteilen. Die jetzige Situation trägt auf jeden Fall dazu bei, dass wir uns verstärkt mit dem Thema Digitalisierung auseinandersetzen und beschäftigen und neue Methoden dazulernen und anwenden", so der Entwicklungsdienstleister in seinem Statement.
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