Bei VW in Wolfsburg eskaliert die interne Auseinandersetzung um den Fehlstart des überaus bedeutsamen Volumenmodells Golf 8. In einer selbst für den als streitbar bekannten Betriebsratschef Bernd Osterloh seltenen Offenheit kritisiert dieser jetzt den Vorstand um Konzernchef Herbert Diess. Hintergrund ist der aus Sicht der Arbeitnehmervertretung "missratene" Produktionsanlauf der achten Generation des kompakten Bestsellers.
In der druckfrischen Ausgabe von "Mitbestimmen!", der Zeitung des VW-Betriebsrats, heißt es unter der Überschrift "Golf-Ärger: Wo ist der Vorstand?" auf der Titelseite: "Die massiven Software-Probleme beim Golf 8 reißen nicht ab. Die Ursache: Schon lange vor dem Anlauf hatte der Vorstand die Weichen falsch gestellt". Bernd Osterloh wird dazu mit den Worten zitiert: "Die Folgen dieser unrealistischen Planungen sind ein völlig überzogener Druck auf die Kolleginnen und Kollegen an den Montagelinien".
Daniela Cavallo, die stellvertretende Betriebsratsvorsitzende, schlägt im Editorial des Blatts in dieselbe Kerbe: "Wir müssen endlich den Golf in Stückzahl zu den Kunden bringen! Der Vorstand hat beim Golf-Anlauf mit falschen Entscheidungen und falschen Prioritäten ein Chaos angerichtet. Zum Glück steht die Belegschaft in aller Flexibilität bereit, um dieses Chaos wieder glattzuziehen".
Beispiele für gravierende Probleme beim Golf 8 benennt VWs Arbeitnehmervertretung auf Seite 3 ihrer Gazette. Dort heißt es etwa: "Im Jahr 2019 hat das Werk Wolfsburg 8392 Golf 8 produziert – geplant waren mehr als 100.000. Die wesentliche Ursache dafür waren die Störungen in der Software und Elektronik". In diesem Kontext stellt sich Bernd Osterloh schützend vor die Belegschaft und erklärt: "Diese Fehler haben weder die Beschäfttigten in Halle 54 und Halle 12 zu verantworten, noch das Werk insgesamt. Hier wollten überehrgeizige Vorstände zu schnell zu viel Technik in ein Fahrzeug stopfen, und sind damit gescheitert. Außerdem fehlen Motoren, Farben, und Ausstattungen wie zum Beispiel der bei den Kunden bisher beliebte 4Motion".
Vorstände im Visier
Hauptadressaten der schallenden Verbal-Ohrfeigen sind Herbert Diess, der Chef des VW-Konzerns, und Andreas Tostmann, Produktions- und Logistikvorstand des Kernlabels VW Pkw. Abgewatscht fühlen vom Betriebsrat müssen sich aber auch Ralf Brandstätter, Chief Operating Officer von VW Pkw, und Frank Welsch, zuständiger Markenvorstand für die Technische Entwicklung. Eine zumindest leicht glühende Wange dürfte Christian Senger verspüren, der allerdings erst seit dem 1. März 2019 als Mitglied des Markenvorstands Volkswagen Pkw für das Ressort "Digital Car & Services", mithin für das Gros der Software in neuen Fahrzeugen, verantwortlich zeichnet.
Im Text von "Mitbestimmen!" finden sich weitere Negativbeispiele: "Motoren- und Farbpalette haben eine große Gemeinsamkeit – sie sind äußerst dünn", ist dort zu lesen. In der aktuellen Print-Ausgabe hat Automobilwoche unter anderem über das schmale Lacktonspektrum bereits exklusiv berichtet.
Weiter heißt es aktuell aus Wolfsburg: "Der Vierradantrieb kam beim Golf 7 ein paar Wochen nach Anlauf in die Serie. Beim 8er soll der Vierradantrieb erst 2021 kommen. Gerade dieses Fahrwerk wird aber oft von Kunden nachgefragt, die sowieso vollausgestattete Modelle bestellen und ordentlich bezahlen. Auch die für die Auslastung unseres Standortes so wichtigen Plug in-Hybridmodelle kommen einfach nicht an den Start. Das ist besonders ärgerlich, weil diese Fahrzeuge bei Firmenkunden beliebt sind, denn es falllen nur niedrige Steuern für sie an. Auf der anderen Seite der Modellpalette beim Golf sieht es nicht besser aus: Bisher fehlt ein kleiner Motor, wie es ihn zum Beispiel im Golf Sportsvan gibt: der sparsame 1,0 TSI".
Bernd Osterloh fragt in aller Schärfe: "Wie kann es sein, dass der Golf 8 seit Juli produziert wird, und immer noch nicht mit einem Basismotor im Angebot ist? Immerhin sind es fast zehn Prozent der Kunden, die damit abgedeckt würden. Sogar die Autohändler in Wolfsburg meckern schon in der Lokal-Presse über die schwache Angebotspalette, und das sind unsere treuesten Unterstützer."
Appell an "ganz oben"
Fast schon Stoff für eine Realsatire liefert Ausgabe 1/ 2020 der VW-Betriebsratszeitung ebenfalls: "Wenn die Kolleginnen und Kollegen in der Wagenfertigstellung bei einem der vielen Golf 8 mit Software-Fehlermeldungen gar nicht mehr weiterwissen, kommt die Geheimwaffe zum Einsatz: eine Ratsche mit 10er-Nuss. Damit wird dann die Batterie abgeklemmt und so das ganze Auto stromlos gemacht. 'Das ist wie zuhause mit der Fritzbox: Aus der Steckdose ziehen, eine Minute warten, und wieder einstecken. Dann ist das WLAN wieder da', sagt ein Kollege, der Tag für Tag in der Wagenfertigstellung die Fahrzeuge mit Fehlermeldungen abarbeitet. Der Trick geht so: Ohne Strom entladen sich die Kondensatoren in der Elektronik vollständig. Auch in Autos. Für die Golf 8 mit ihren vielen Softwarefehlern ist das wie der Neustart beim Computer. Beim Hochfahren klappt es dann hoffentlich besser".
Für den anstehenden Anlauf des wichtigen VW ID.3, eines reinen Stromers in der Kompaktklasse, lässt all dies nicht allzu viel Gutes erwarten, um es vorsichtig zu formulieren. Die Fragen an Herbert Diess und seine Vorstände in Konzern und Hauptmarke werden immer drängender. Eine Anfrage der Automobilwoche bei VW zu einem Statement rund um die massive Kritik des Betriebsrats ließ das Unternehmen bis 12.00 Uhr unbeantwortet. Etwas später meldete sich ein VW-Sprecher fernmündlich im Hamburger Kontor der Automobilwoche und sagte: "Der Golf 8 ist ein hervorragendes Auto, überzeugt international die Kunden, Händler und auch die Motorpressse, wo das Fahrzeug schon viele Tests gewonnen hat".
Bernd Osterloh will erkennbar die VW-Mitarbeiter aus der Feuerlinie nehmen – und macht weiter Druck: "Die Kolleginnen und Kollegen in Halle 12 und 54 tun, was sie können, damit der Golf in Top-Qualiät zu den Kunden kommt. Hier gehen nur einwandfreie Fahrzeuge raus, dafür sorgen unsere Fachleute der VW-Qualitätssicherung und die Beschäftigten an den Montagelinien. Wir müssen jetzt alle zusammen dafür sorgen, dass der Golf 8 endlich auf Kammlinie kommt. Ich fordere aber schon jetzt, dass dieser Anlauf noch einmal genau untersucht wird, und dass die Verantwortlichen im Vorstand für die Software-Fehler und die Verzögerungen benannt werden. Denn wer so mit dem Golf spielt, spielt auch mit den Arbeitsplätzen der Beschäftigten. Und zwar nicht nur im Werk, sondern weit darüber hinaus. Und bei der leichtfertigen Gefährdung von Arbeitsplätzen verstehen wir im Betriebsrat keinen Spaß".
In "Mitbestimmen!" ist überdies zu lesen: "Bei den Kolleginnen und Kollegen, die am und für den Golf arbeiten, wächst die Unsicherheit. Wann kommen GTI, GTD und der Golf R? Fest steht bisher nur: später als geplant. Prinzip Hoffnung herrscht in den Hallen 54 und 12. Und jedes Mal wächst die Sorge ein bisschen mehr, wenn wieder die Ratsche mit der 10er-Nuss gefragt ist".
Bernd Osterloh unmissverständlich: „Ich erwarte von Führungskräften bei VW einen respektvollen und partnerschaftlichen Umgang mit ihren Teams. Das nennt sich soziale Kompetenz. Viele haben das, manche aber auch nicht. Wer Druck von oben nach unten einfach weitergibt, dem fehlt diese Kompetenz". Und: "Der Golf ist der Stolz der Marke VW und eines der wichtigsten deutschen Industrieprodukte. Das Auto sichert zehntausende Arbeitsplätze in Wolfsburg und weit darüber hinaus. Darum ist der Betriebsrat entsetzt, wie nachlässig und schwach der Vorstand weit vor dem Anlauf das ganze Projekt aufgestellt hat. Die Beschäftigten in Produktion und Entwicklung tun alles, damit der Golf auf Stückzahl kommt. Aber im Vorstand will niemand die Verantwortung für die Ursprünge dieses Problems übernehmen, obwohl alle ja schon seit Jahren dabei sind. Ich und meine Kolleginnen und Kollegen erwarten jetzt ein klares Wort von ganz oben".
Bei VW ist mit "ganz oben" Herbert Diess gemeint. Und Hans Dieter Pötsch, der Chef des Aufsichtsrats. Automobilwoche wird berichten.
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