Die deutsche Autoindustrie muss sich nach Angaben von EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger darauf einstellen, dass die bisherigen CO2-Vorgaben für die Neuwagenflotten nochmals deutlich ambitionierter ausfallen. "Die CO2-Ziele der Europäischen Union sind erst ein Jahr alt, aber ich habe die Sorge, dass sie nochmals korrigiert werden. Die Zeichen im Europäischen Parlament stehen ganz klar auf einer weiteren Verschärfung in Richtung 50 Prozent Reduzierung bis 2030 im Vergleich zu 2021 statt der bislang vereinbarten 37,5 Prozent", sagte Oettinger am Rande des Automobilwoche-Kongresses in Berlin.
Oettinger kritisierte, dass das Paket nochmals aufgeschnürt werden könnte. "Die Autoindustrie in Deutschland braucht keine Subventionen, aber langfristig verlässliche Rahmenbedingungen für die Planungen der nächsten Jahre."
In seiner Rede warnte Oettinger Deutschland eindringlich davor, seine führende Rolle als Industrienation in der Welt aufs Spiel zu setzen. "Wir sind larmoyant, träge und fett unterwegs", sagte er. Der Automobilsektor als Leitindustrie werde derzeit systematisch zerstört und erhalte nicht die notwendige Unterstützung der Politik.
Vielleicht müsse Deutschland erst wieder der kranke Mann Europas werden, bevor es eine neue Reform-Agenda geben könne. Derzeit gebe die Koalition ein schlechtes Bild ab und versuche, sämtliche Reformen der Vergangenheit wieder rückgängig zu machen, die einen Vorsprung an Wettbewerbsfähigkeit gebracht hätten. "Die Debatten sind kleinkariert und national", monierte Oettinger.
So werde über eine schrittweise Absenkung des Rentenalters diskutiert anstatt über eine Erhöhung nachzudenken. Pläne für die Rente mit 63 Jahren bezeichnete er als "Schwachsinn". "Die Rente mit 70 darf kein Tabu sein", sagte Oettinger mit Blick auf die deutlich gestiegene Lebenserwartung von Frauen und Männern. "Wir müssen die bisherige Lebens- und Wochenarbeitszeit aufbrechen", so Oettinger. Nur so habe man in dieser wettbewerbsintensiven Zeit eine Chance.
Deutschland müsse außerdem deutlich schneller werden im digitalen Zeitalter. "Wir sind die Langsamkeit in Person. Jedes Infrastrukturprojekt kommt zu spät", beklagte Oettinger mit Blick auf zahlreiche Bahnprojekte, die seit Jahrzehnten geplant, aber noch nicht fertiggestellt seien.
"Kampf der Systeme"
Deutschland befinde sich längst in einem "Kampf der Systeme". Als größten Konkurrenten hat Oettinger dabei China ausgemacht, das zum 100. Geburtstag der Volksrepublik im Jahr 2049 wirtschaftlich, militärisch und technologisch führend sein wolle. Dieser Plan werde 1:1 umgesetzt. "Die Chinesen sind ehrgeiziger, stehen früher auf, duschen kürzer und kälter", sagte Oettinger.
Oettinger mahnte daher, stärker für die europäischen Werte wie parlamentarische Demokratie, soziale Marktwirtschaft, Meinungs- und Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit, oder Religionsfreiheit einzustehen. "Wenn wir unseren freiheitlichen Lebensstil erhalten wollen, dann müssen wir endlich dafür kämpfen, mehr jedenfalls als wir es bisher tun", appellierte Oettinger.
Dies werde aber nur in einem gemeinsamen Europa gelingen. Deutschland und Frankreich seien im Weltmaßstab betrachtet Zwerge mit einem oder sogar weniger als einem Prozent der Weltbevölkerung. "Zwerge stellt man sich in der Regel in den Vorgarten und pinkelt sie an", so Oettinger. Aber viele Zwerge zusammen könnten einen Riesen bändigen.
So habe Europa einen der größten Binnenmärkte der Welt geschaffen und sichere damit auch die Grundlagen der Automobilindustrie, die ihre Autos über Grenzen hinweg ohne Handelsbarrieren verkaufen könnten. Europa sei der Kontinent der Freizügigkeit und habe in den vergangenen Jahrzehnten die Wettbewerbsfähigkeit und Lebensqualität der einzelnen Länder deutlich erhöht. Dafür stehe auch der Euro. So habe Goethe bei seiner Reise nach Rom noch 19 unterschiedliche Währungen benötigt.
In diesem Zusammenhang plädierte Oettinger auch für eine Erweiterung der Europäischen Union. So sollte etwa Serbien im Laufe des nächsten Jahrzehnts Mitglied werden. Ansonsten gerate das Land unter den Einfluss von Russland oder der Türkei. "Das Zeitfenster der Geschichte öffnet und schließt sich", sagte Oettinger. Es sei wichtiger, Frieden und Stabilität zu exportieren als eine S-Klasse.
Oettinger ist noch so lange Haushaltskommissar in Brüssel, bis das neue Kabinett von EU-Kommissarin Ursula von der Leyen steht. Ihre Kandidaten waren im Parlament wiederholt abgelehnt worden. Danach will der 66-Jährige als Politikberater weiterarbeiten. Dazu hat er bereits eine Firma in Hamburg gegründet. Oettinger war auch als Kandidat für die Nachfolge von VDA-Präsident Bernhard Mattes gehandelt wurde. Oettinger hat dies zwar bisher nicht kategorisch ausgeschlossen, aber wissen lassen: "Für mich hat jetzt Priorität, meine Pläne für die Zeit nach dem Ende des Mandates und meinen Einstieg in die Politikberatung voranzutreiben."
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