Elektromobilität ist für Designer ein Segen. Marc Lichtes Job verändert sich durch das Elektrofahrzeug grundlegend. "Mit der Elektromobilität tun sich komplett neue Möglichkeiten auf, andere Proportionen zu realisieren. Wir stehen im wahrsten Sinne des Wortes unter Strom.“ Wie das ganze Unternehmen wird auch Lichtes Zukunft elektrisch sein.
Lichte ist Chefdesigner von Audi. Als Beispiel für den Wandel im Automobildesign nennt er den Q4 e-tron. Das auf dem Genfer
Auto-Salon im März 2019 erstmals gezeigte elektrisch angetriebene SUV weist alle Attribute eines E-Autos wie kurze Überhänge, langer Radstand und große Räder auf. Die weiter vorn angesetzte und dadurch weniger steil stehende A-Säule macht das Auto laut Lichte schon im Stand schnell. Gleichzeitig schwärmt der Designer von den Vorzügen im Innenraum: "Wir haben Platzverhältnisse wie nie zuvor. Das sorgt in Verbindung mit hellen Farben für ein komplett neues Raumgefühl.“
Glas will Lichte aber zurückhaltend einsetzen. Wegen des Mehraufwands für die dafür notwendige Kühlung ginge viel Energie verloren. "Da ist es wichtig, das richtige Maß zu finden, um die Reichweite nicht negativ zu beeinflussen.“
Lichte hat seinen Traumjob gefunden
Der Q4 e-tron soll in der zweiten Jahreshälfte 2020 fast genau so wie in Genf gezeigt in Serie gehen. Dabei sind es auch die scharfen Linien in Verbindung mit weichen Formen, mit denen der Designer den nächsten Schritt in die Zukunft von Audi macht. Der im April auf der Automesse in Schanghai gezeigte AI:ME geht noch einen Schritt weiter. „Die
Studie ist die Vision eines Mobilitätskonzepts der Zukunft. Der Audi AI:ME ist für den Einsatz in der Stadt und das Fahren auf dem sogenannten Level 4 konzipiert“, sagt Lichte.
Keilförmig steht das Kompaktfahrzeug auf der Straße. Die weit herausgezogenen Kotflügel mit 23-Zoll-Rädern sollen ebenso Kraft und Emotionalität betonen wie die extrem taillierten Flanken und die muskulös herausgearbeiteten Seitenschweller.
Die Fenstergrafik hat Lichtes Designteam zudem mit einem Knick in der Mitte gestaltet. Eine scharfe Linie zieht sich von den Scheinwerfern in Richtung A-Säule, setzt sich über Seiten- und Heckscheibe fort und umspannt so das Fahrzeug wie eine Klammer. Der Radstand ermöglicht Interieur-Abmessungen, die eine Klasse höher anzusiedeln sind. Für die Insassen bedeutet das jede Menge Platz.
Vielfältige Konfigurationen für Sitzpositionen und Ablagemöglichkeiten stehen im AI:ME zur Verfügung. Bei den meisten Fahrten werden ausschließlich die vorderen Einzelsitze genutzt. Bei Bedarf können jedoch zwei weitere Personen auf der hinteren Bank mit Lounge-Charakter sitzen.
Vieles von dem zeigt eine Verwandtschaft zum Audi Aicon auf. Die Studie für automatisierten Langstreckenbetrieb hatte im Jahr 2017 auf der Internationalen Automobil-Ausstellung (IAA) in Frankfurt ihre Premiere – ohne Lenkrad, ohne Pedalerie.
Der Sauerländer Lichte, der am 9. August 50 Jahre alt wird, leitet das Audi-Design seit dem 1. Februar 2014. Bereits während des "Transportation Design"-Studiums an der Hochschule Pforzheim begann er 1996 seine Laufbahn bei Volkswagen. Dort stieg er zum Leiter des Design-Exterieur-Studios auf und arbeitete an Serienmodellen wie dem VW Golf (Generationen V, VI und VII), dem Passat, dem Touareg und dem Arteon.
In der jetzigen Position verantwortet er neben dem Exterieur- und Interieurdesign auch den Bereich Colour and Trim sowie die Gestaltung der Rennwagen. Mit dem A8 gab Lichte bereits im Jahr 2017 einen Ausblick auf die nächste Generation der Oberklassemodelle. Das Fahrzeug prägt das neue Gesicht der Marke. Keine Frage: Bei Audi hat Lichte seinen Traumjob gefunden.
Vorfreude auf die IAA
Nach Lichtes Ansicht werden die Autos nächster Generationen viel konsequenter auf bestimmte Einsatzbereiche ausgerichtet sein als heute. "Wir werden uns mehr und mehr einem speziellen User-Case nähern. Fahrzeuge für die Stadt werden deutlich anders konzipiert sein als die für die längere Reise."
Der neue Blick gilt vor allem dem automatisierten Fahren, wie beim AI:ME mit Level-4-Technologie: Systeme auf diesem Level
benötigen keine Unterstützung des Fahrers mehr, sind jedoch auf einen bestimmten Funktionsbereich beschränkt, etwa die Autobahn oder ein besonders ausgerüstetes Areal in Innenstädten. Hier kann der Fahrer die komplette Fahraufgabe an das System übergeben. Er übernimmt erst wieder, wenn das Auto den für voll automatisiertes Fahren definierten Bereich verlässt. In der Zwischenzeit genießen die Insassen das Interieur der rollenden Mini-Lounge.
Mit Vorfreude sieht Lichte der IAA im September entgegen. "Da werden wir ein wahres Feuerwerk an Neuheiten zünden. Gerade auch im Hinblick auf die Gestaltung von E-Fahrzeugen haben wir noch einiges im Köcher."
Zwar hält sich Lichte beim Ausblick auf die Messe noch bedeckt. Doch zumindest ein Detail verrät der Audi-Chefdesigner im Vorfeld schon: "Bei einem geländegängigen SUV werden wir dem Fahrer die Sicht nach draußen durch die Radkästen ermöglichen. So sind mögliche Hindernisse besser zu erkennen, und Schäden, vor allem an den Felgen, zu vermeiden."
Der Beitrag stammt aus Automobilwoche "Edition Audi - Aufbruch in ein neues Zeitalter":