Kein Volumenhersteller in Europa geht beim Thema Elektromobilität derzeit so ambitioniert vor wie der Volkswagen-Konzern. Allein die Marke VW will ab 2025 jährlich eine Million batteriebetriebene Fahrzeuge auf den Markt bringen. Es soll sechs unterschiedliche Baureihen mit insgesamt 17 Derivaten geben. So etwas lässt sich nur mit einer komplett neuen Architektur sowie mehreren Tausend Ingenieuren auf die Räder stellen.
Herbert Diess, seit Juli 2015 VW-Markenvorstand, ließ hierzu gleich nach seinem Amtsantritt die ersten Skizzen fertigen. Es war sozusagen die Geburtsstunde des MEB, des Modularen Elektrifizierungsbaukastens. „Der MEB hat für uns eine Schlüsselfunktion“, sagt Christian Senger, Leiter E-Mobilität. Diess macht es sogar noch deutlicher: „Ohne den MEB wird es 2020 ziemlich schwierig, die strengen CO2-Flottenvorgaben zu schaffen.“
Doch alle Mühe wäre vergeblich, wenn das erste I.D.-Modell – es handelt sich dabei um die Serienversion der vor einem Jahr in Paris vorgestellten Kompakt-Studie – nur nett im Showroom stünde. Es muss auch kräftig gekauft werden, um positiv aufs CO2-Konto einzuzahlen. Damit das geschieht, will Senger drei wesentliche Eckpunkte sicherstellen. Erstens: Das Maß aller Dinge bei Elektrofahrzeugen – die Reichweite – soll zwischen 400 und 600 Kilometern liegen, damit möglichst viele Käufer einen Stromer als Erstfahrzeug wählen. Zweitens: Der Kaufpreis soll auf dem Niveau eines leistungsmäßig vergleichbaren Dieselmodells liegen. Und drittens: ein eigenständiges und dennoch sehr attraktives Design. „Ein Elektroauto ist nicht einfach ein Fahrzeug ohne Auspuff“, sagt Klaus Bischoff. Der Designchef zielt auf eine moderne Erscheinung: VW-typisch zurückhaltend, aber ikonenhaft.
Die neuen Freiheitsgrade hierfür sind aus Designersicht geradezu märchenhaft. Weil das klassische Layout eines Chassis für Verbrennungsmotor, Getriebe, Auspuff und Abgasnachbehandlung entfällt, entstehen neue Proportionen mit kürzeren Überhängen und längeren Fahrgastkabinen. „Für die Insassen drückt sich dies in deutlich mehr Raumgefühl aus“, so Bischoff, der gern von einer „Lounge auf Rädern“ spricht.
Auch Seat, Škoda und Audi sollen sich bedienen
Derzeit läuft die Entwicklung des MEB auf Hochtouren. Es gilt nicht nur, alle Anforderungen ans Crash-Verhalten sowie an die Akustik und an die Betriebsfestigkeit zu erfüllen. Äußerst wichtig ist auch die Skalierbarkeit der einzelnen Bauteile. „Der MEB muss vom kleinsten bis zum größten Modell funktionieren“, sagt Christian Senger. Doch dies ist längst nicht alles.
Parallel müssen sich die Ingenieure mit der Produzierbarkeit des Baukastens, seiner späteren Reparierbarkeit und sogar der Versicherungsfähigkeit beschäftigen. Sämtliche Parameter müssen zeitlich perfekt ineinandergreifen, um, von heute an gerechnet in wenig mehr als zwei Jahren, den nach der Umstellung vom Käfer zum Golf wohl größten technologischen und logistischen Umbau bewerkstelligen zu können.
Zudem ist das Projekt MEB nicht nur für die Marke Volkswagen gedacht. Auch die Konzerntöchter Seat, Škoda und Audi sollen und werden sich bedienen und kündigen für 2020 ebenfalls ihre ersten Elektromodelle mit der neuen Architektur an. „Bei der Entwicklung gilt das Mehraugen-Prinzip“, sagt Senger, „damit nichts vergessen wird, bei keiner Marke.“
Zum MEB-Chassis zählen neben Motoren, Achsen und Batterie auch die Stirnwand und die Elektronik. Letztere soll in einer völlig neu entwickelten Funktionsarchitektur eingesetzt werden. Ob das betreffende Modell später ein oder zwei E-Motoren und einen etwas kleineren oder größeren Stromspeicher (die Bandbreite sieht 60 bis 100 kWh vor) an Bord hat, hängt vom Segment ab.
Zunächst weitere fünf Stromer geplant
Die Batteriezellen kauft Volkswagen hinzu, jeweils vom optimalen Anbieter, egal ob dieser in Korea, Japan oder einem anderen Land beheimatet ist. Festhalten will man an der am meisten erprobten Technologie: Lithium-Ionen-Zellen und 400 Volt Spannung. Auch aus Kostengründen. Angestrebt werden laut Diess Zellenpreise von 150 Euro pro Kilowattstunde Kapazität. Rund 70 Prozent dieser Kosten gehen auf das Konto der Zellen, etwa 30 Prozent fließt in die Peripherie, das Batterie-Package. Das entsteht in Braunschweig. Die Elektromotoren wiederum sind komplette Eigenentwicklungen und werden im Werk Kassel zusammengesetzt.
So modern und futuristisch die I.D.-Studien auch wirken, gebaut werden sie recht konventionell – in Blechschalenweise. Eine aufwendige und sündhaft teure Fertigung aus Carbon, wie BMW sie beim i3 einsetzt, spart sich VW. „Wir können dadurch unseren bestehenden Karosserie-Rohbau nutzen“, sagt Senger. Gleiches gilt für die Lackiererei.
Erst zur Endmontage trennen sich die Wege zwischen Verbrenner (MQB) und Elektromotoren (MEB). Dies ist zudem notwendig, weil andere und deutlich weniger Teile zusammengesetzt werden müssen und somit die Taktzeiten nicht harmonieren. Eine „Hochzeit“ – also das Zusammenführen von Karosserie und Antriebsstrang – werde es weiterhin geben, schmunzelt Senger.
Der erste I.D., ein Hatchback im Kompaktsegment, wird in Zwickau in einer sogenannten zweiten Scheibe vom Band rollen, parallel zu Golf und Passat, die in der ersten Scheibe gefertigt werden. Eine zweite Fertigung will Volkswagen in China aufbauen, dem mittlerweile größten Markt für Stromfahrzeuge.
Nach dem I.D. Hatch stehen zunächst weitere fünf Elektromodelle auf dem Plan. Zwei hat VW bereits gezeigt: das Crossover I.D. Crozz sowie den I.D. Buzz. Hinzu kommen vermutlich zwei SUVs sowie eine Limousine, die einmal als Phaeton-Nachfolger gedacht war. Zur Freude vieler Bulli-Fans hatten Diess und VW-Nutzfahrzeuge-Vorstand Eckhard Scholz kürzlich bekannt gegeben, 2022 nicht nur den Buzz als kultigen Elektro-Bulli aufzulegen, sondern auch in verschiedenen Transporter-Varianten. Elektrische Lieferwagen im innerstädtischen Verkehr könnten für Gewerbe, Handel und Handwerk wichtig werden. Schließlich müssen diese auch Kunden in für Verbrennungsmotoren gesperrten Umweltzonen erreichen.