Think New – denk anders, denk neu. Diese Idee ist gar nicht so neu. Schon 2014 initiierte der VW-Konzern – noch unter Martin Winterkorn – das Programm, mit dem sich die Wolfsburger und speziell die Kernmarke VW digital neu aufstellen sollten. Kurz vor dem Ausbruch des Dieselskandals startete VW die Kampagne zu „Think New“. In der Öffentlichkeit wurde es dann ruhig um das Thema, nicht aber hinter den Kulissen.
„Wir wollten zuerst Substanz aufbauen“, sagt Christoph Hohmann, der bei „Think New! Organisation“ (TNO) die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle für VW leitet. TNO wuchs schnell. Heute arbeiten am Stammsitz im Berliner Johannishof rund 200 Menschen. Zusammen mit den Kollegen in Wolfsburg tüfteln rund 300 Mitarbeiter für die Marke VW am vernetzten Fahrzeug und dem dazugehörigen digitalen Ökosystem. „Bis 2025 sollen 80 Millionen Volkswagen-Kunden weltweit über ,We‘ vernetzt sein. Das ist der Nordstern, nach dem wir uns richten“, sagt Joachim Franz, der seit dem 1. Oktober 2017 bei TNO den Bereich Costumer Experience verantwortet.
Neue Profitquellen im Visier
Der Weg dahin ist noch weit, aber unumgänglich. Die EBIT-Margen im klassischen Autogeschäft schrumpfen. „Um 30 bis 50 Prozent innerhalb der nächsten drei bis fünf Jahre“, prognostiziert Thomas Brand von PA Consulting. VW-Markenchef Herbert Diess hat dennoch ambitionierte Ziele: Von aktuell 2,5 Prozent soll die Marge bis 2020 auf vier und bis 2025 auf sechs Prozent klettern. VW denkt also nicht nur an das Wohl der Kunden, die Software-Services sollen langfristig auch positive Spuren in der Bilanz hinterlassen.
Die Wolfsburger betreten mit „We“ in vielerlei Hinsicht Neuland. Entwicklungszyklen sind bei Software-Produkten viel kürzer als im Fahrzeugbau. Und die Entwicklungsmethoden selbst verändern sich ständig. Die Traditionsmarke muss daher noch einmal selbst zum Start-up werden.
Da mag es ein gutes Omen sein, dass TNO die ehemaligen Räume von Rocket Internet – einem der größten Start-up-Inkubatoren Deutschlands – bezogen hat. Immer mehr Dienste rund ums Auto, Konnektivität und Mobilität sollen VW für jüngere Generationen attraktiv machen. Etwa We Commerce. VW will den Fahrern gemeinsam mit Partnern Angebote unterbreiten. Das kann zum Beispiel eine Wagenwäsche nach einer Woche Regen sein.
Manager wie der ehemalige Outfittery-Mann Dominic Gaspary arbeiten an diesen Geschäftsmodellen. Er ist einer der Neuen. Denn während etwa 60 Prozent der „Neu-Denker“ aus dem VW-Konzern stammen, sind gut 40 Prozent Konzern- oder sogar Branchenfremde, die helfen sollen, VW agiler und digitaler zu machen.
Seite an Seite mit IBM
Mit im Boot ist bei We Commerce auch ein ganz großer Player: IBM. Zum ersten Mal arbeiten VW-Leute in gemischten Teams – von der Ideenentwicklung bis hin zum fertigen Produkt. Nahezu alles wird geteilt: Risiko, Kosten und die Gewinne. Zur Investitionssumme schweigt man. Die Kooperation ist auf fünf Jahre angelegt. Die neuen Dienste werden über eine eigene Cloud von VW sowie über eine hybride Cloud von IBM betrieben. Das Ziel ist klar: Bei Software-Anwendungen ist der Erstaufwand zwar hoch, dann aber kann der Anbieter mit Gewinnspannen im zweistelligen Prozentbereich rechnen – und verdient fortlaufend an entwicklungsseitig relativ kostengünstigen Updates.
„Die Marge, die sich aus digitalen Geschäften speist, wird bei 20 bis 25 Prozent liegen“, so Digitalisierungsexperte Brand von PA Consulting. Mancher Finanzvorstand in der Autobranche spricht hinter vorgehaltener Hand sogar von Margen „weit nördlich der 50 Prozent“. Jetzt kommt es auf Schnelligkeit an, um den Markt zu besetzen. Was genau We Commerce anbieten wird? Gaspary will noch nicht zu viel verraten. 2018 sollen konkrete Ergebnisse sichtbar werden.
We Park, eine App, über die sich Parkgebühren mit einem Wisch per Smartphone bezahlen lassen, ist da schon weiter. Sie ist bald in 17 deutschen Städten nutzbar. 30 Leute hat das Team um Romy Reincke. „Es ist das erste Mal, dass wir bei VW mit neuen agilen Methoden statt im klassischen linearen Projektmanagement – Stichwort ,Wasserfall-System‘ – arbeiten“, sagt Reincke. Fünf neue Städte in einem Jahr, so etwas hätte es früher nicht gegeben. 2018 soll die App in VW-Modellen integriert werden.
Noch in der Pilotphase steckt dagegen We Deliver.
Der Lieferdienst für den Kofferraum testet derzeit in Berlin mit 50 Probanden und eigens dafür zur Verfügung gestellten Polos, wie die Kooperation mit DHL funktioniert. Läuft alles nach Plan, geht der Dienst ebenfalls 2018 an den Start. Damit der Volumenmarke die guten Ideen für neue Dienste nicht so schnell ausgehen, engagiert sich VW auch als Start-up-Inkubator. In der Gläsernen Manufaktur in Dresden erhalten Gründer 200 Tage Zeit und 15.000 Euro, um eine Idee zur Marktreife zu bringen.
Eine Chance für Carl & Carla
Aktuell am Start sind Jungunternehmer wie Richard Vetter von der Kleinbusvermietung „Carl & Carla“. Ein Geschäftsmodell, das aus einem in der Studenten-WG geteilten VW Bulli entstand. Stefan Eckart optimiert dagegen die Suche nach freien Parkplätzen. Ein Sensor im Boden erkennt, ob über ihm ein Fahrzeug steht, und meldet freie Plätze zum Beispiel über eine App direkt an Autofahrer, die auf der Suche nach einer Lücke sind.
Im besten Fall lassen sich die Ideen der Start-ups in bereits bestehende Produkte wie We Park und das VW Car-Net integrieren. Dort sind Apps und Dienste wie Navigation (Guide & Inform), Diebstahlschutz, Aktivierung der Standheizung per Smartphone (Security & Service) oder die Integration von Apple CarPlay (App Connect) zusammengefasst. Gebrauchtwagenkunden will VW über eine Dongle-Lösung namens VW Connect in die We-Familie holen. Für 40 Euro lassen sich auch Fahrzeuge von 2008 noch hochrüsten, Durchschnittsverbräuche anzeigen und digitale Fahrtenbücher nutzen.
Später sollen die Kunden sich auch untereinander vernetzen. Wie das geschehen wird, ist noch unklar. Doch die Vision des TNO-Teams steht. „Wir sind keine Egomarke“, betonte VW-Vertriebsvorstand Jürgen Stackmann bei der Präsentation von We Deliver und verteilte Seitenhiebe auf Apples „i“-Imperium und Mercedes me. Der Kampf ums Ökosystem hat längst begonnen, und bei aller Kreativität für immer wieder neue Dienste bleibt eines endlich: die Zeit der Kunden.
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