Hamburg. Matthias Müller wirkte müde und blass. Und gehetzt: „Wir tun alles, um die aktuelle Situation zu bewältigen“, sagte der neue VW-Vorstandsvorsitzende auf einer mit Spannung erwarteten Pressekonferenz am 10. Dezember 2015 in Wolfsburg. Neben Müller saß Hans Dieter Pötsch, auch er sichtlich gezeichnet von den Strapazen der Wochen zuvor. „Um diese Bewährungsprobe zu bestehen“, mahnte der neue Aufsichtsratsvorsitzende des Autokonzerns, „braucht es eine große, gemeinsame Kraftanstrengung.“ Beklommene Stille im Saal.
Bei VW hatte sich keine drei Monate zuvor der Super-GAU ereignet. Am 20. September 2015 muss Europas Marktführer erstmals öffentlich eingestehen, bei der Abgasreinigung von Dieselfahrzeugen massiv manipuliert zu haben. „Ich persönlich bedauere zutiefst, dass wir das Vertrauen unserer Kunden und der Öffentlichkeit enttäuscht haben“, teilt der damalige VW-Konzernchef Martin Winterkorn mit.
Dieser Tage jährt sich Winterkorns zerknirschte Erklärung zum ersten Mal, die zum Auftakt werden sollte für ein beispielloses Wirtschaftsdrama in der deutschen Industriegeschichte.
Vor einem Jahr ging es dann Schlag auf Schlag: Am 23. September schmeißt Winterkorn die Brocken hin. „Volkswagen braucht einen Neuanfang – auch personell“, lässt er wissen. „Mit meinem Rücktritt mache ich den Weg dafür frei.“ Am 25. September bestimmt der VW-Aufsichtsrat um Berthold Huber den Chef der VW-Sportwagenmarke Porsche, Matthias Müller, zu Winterkorns Nachfolger als VW-Konzernchef. Und am 7. Oktober löst Pötsch, der langjährige Finanzvorstand von VW, Interimsmann Huber an der Spitze des Kontrollgremiums ab.
Tiefer Fall einer Ikone
Da sorgt das NOx-Emissionsdebakel längst als „Dieselgate“ für denkbar schlechte Schlagzeilen. Nicht nur in den USA, wo das Unheil rund um die Schummel-Software („defeat device“) seinen Anfang nimmt, sondern weltweit. Pötschs Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat stößt allenthalben auf Unverständnis. Und immer deutlicher zeichnet sich ab, dass sich VW neben milliardenschweren Belastungen aus Schadenersatzforderungen und Bußgeldern auf einen grundlegenden Umbau des Zwölfmarkenkonglomerats einzustellen hat. „In wenigen Tagen vom Traumkonzern zur Trümmerbude“, klagt eine desperate VW-Führungskraft damals der Automobilwoche (Ausgabe 21/2015).
Doch Matthias Müller ist ein Kämpfer. „Wir dürfen und wir werden uns nicht wegducken“, appellierte der neue VW-Vormann bald auf einer VW-internen Konferenz an seine Topmanager. „Schockstarre wäre der denkbar schlechteste Zustand, um diese Krise zu bewältigen.“ Und – ein Seitenhieb auf seinen oft autokratisch agierenden Vorgänger Winterkorn – Müller betonte: „Alleingänge sind nicht mein Ding!“
Die wären auch zum Scheitern verurteilt. Schon angesichts der schieren Fülle von versteckten Druckstellen, offenen Brandherden und erst schemenhaft erkennbaren künftigen Herausforderungen, die VW nun zu meistern hat.
Da sind die teils diffizilen technischen Maßnahmen, mit denen VW die unsauberen Selbstzünder legalisieren will. Etwa elf Millionen Autos sind rund um den Erdball betroffen – vom Kleinwagen bis zum Pick-up und quer über mehrere Marken. Für die europäischen Varianten des Motortyps EA 189 hatte VW zwar schnell Umrüstlösungen parat. Bei den Aggregaten 1.2 und 2.0 TDI erfolgt ein schlichtes Software-Update. Beim 1,6-Liter-TDI muss zusätzlich ein sogenannter Strömungsgleichrichter vor dem Luftmassenmesser eingebaut werden.
Zur Klage der Nation
In den USA allerdings gelten deutlich schärfere Grenzwerte für Stickoxid. Entsprechend zeit- und kostenaufwendiger ist jedes Detail der Lösungskonzepte, die VW mit der United States Environmental Protection Agency (EPA) und dem California Air Resources Board (CARB) abzustimmen hat. Für rund 475.000 Trick-Diesel mit zwei Litern Hubraum einigte sich VW in den USA auf einen vorläufigen Vergleich, der das Unternehmen mehr als 15 Milliarden Dollar kosten könnte. Für die größeren Dreiliter-Selbstzünder, die Porsche Cayenne, Audi A8 und VW Touareg antreiben, ist noch immer kein schlüssiges Konzept bekannt.
Die Zeit drängt. Der zuständige US-Richter Charles Breyer, durch Dieselgate inzwischen eine Berühmtheit nicht nur in Advokatenkreisen, will spätestens im November einen deutlichen Fortschritt erkennen können. Fünf US-Bundesstaaten klagen bereits gegen VW. Auch der amerikanische Pensionsfonds Calpers hat schwere juristische Geschütze aufgefahren Hinzu kommen Privatanleger, die auf finanziellen Ausgleich pochen für Kursverluste mit VW-Aktien. Ihr Vorwurf: Das Unternehmen habe den Kapitalmarkt zu spät über Probleme mit den US-Behörden informiert.
An dieser Stelle kann es vor allem für Martin Winterkorn und VW-Markenchef Herbert Diess gefährlich werden. Ermittler prüfen den Verdacht, die beiden Topmanager hätten schon seit geraumer Zeit Kenntnis von dem sich anbahnenden Skandal gehabt. Spielte gar Ferdinand Piëch, der Ex-Aufsichtsratsvorsitzende, auf eine drohende Katastrophe für den Konzern an, als er im April 2015 überraschend erklärte: „Ich bin auf Distanz zu Winterkorn“?
Viele dieser Schlüsselfragen sind nicht geklärt. VW selbst will noch im laufenden Jahr einen Bericht zu den internen Untersuchungen vorlegen, mit denen die international tätige Kanzlei Jones Day von VW beauftragt worden ist.
Ein Beladener packt aus
Die Strafverfolger wiederum erhoffen sich endgültig Aufschluss über die Genese der Motormanipulationen von Insidern wie James Liang. Der langjährige VW-Ingenieur aus Kalifornien hat bereits zugegeben, am NOx-Nepp beteiligt gewesen zu sein, und steht der US-Justiz seither als Kronzeuge zur Verfügung. Das erhöht den Druck nicht nur auf mögliche VW-Mitwisser, sondern auch auf Bosch: Die Schwaben haben die inkriminierten Motorsteuerungen an VW geliefert.
Als wären all diese Probleme nicht schon groß und bedrohlich genug, muss Matthias Müller den Konzern im Jahr eins nach Dieselgate aber auch in die Zukunft führen. Ob Industrie 4.0, autonomes Fahren oder Elektromobilität – die Branche steckt in einem fundamentalen Wandel. Und dafür muss VW milliardenschwere Investitionen stemmen – neben den Kosten des Abgasskandals.
„Together-Strategie 2025“ lautet der Titel seiner Langfristplanung, mit der Müller, wie er sagt, „den größten Veränderungsprozess in der Geschichte von Volkswagen“ eingeleitet hat. Dann, an einem sonnigen Augusttag 2016, steht der VW-Chef nach einer Pressekonferenz vor dem Hamburger Rathaus und erklärt seine Schlüsselbotschaft: „Wir wollen den Konzern verändern, von einem klassischen Automobilkonzern zu einem Anbieter von nachhaltiger Mobilität.“
„Wir“, „verändern“ und „nachhaltige Mobilität“ – das sind die neuen Werte von VW, ein Jahr nach Aufdeckung des Abgasskandals. Und noch etwas ist anders als im kalten Dezember 2015: Müller lächelt, er ist gut gebräunt. Jetzt wirkt der Mann schon viel entspannter. Doch am Ziel ist er noch lange nicht.