Graz/Berlin. Mit Wucht knallt das Auto gegen die Wand. Glas splittert, Metall knirscht, und aus dem Lenkrad schießt der Airbag. Doch hinterm Steuer verletzt sich kein Mensch, denn dort sitzt mit jetzt verrenkten Gliedern ein Dummy. Trotz des technischen Fortschritts und der Möglichkeiten der Computersimulation werden die Versuchspuppen noch über Jahre unersetzbar bleiben.
In der modernen Fahrzeugentwicklung spielen Crashtest-Dummys schon seit den 1960er Jahren eine große Rolle. Die großen Puppen sind nicht nur komplexe Messwerkzeuge, sondern bilden auch die menschliche Anatomie nach. Damit sind sie die idealen Insassen bei Kollisionsversuchen von Fahrzeugen unter realistischen Bedingungen.
Die Puppen haben eine Art Wirbelsäule und Becken aus Stahl, ebenso stählerne Knochen und darüber ein Kunststoff-Schaumgemisch, das den restlichen Körper simuliert. Dazu messen Sensoren physikalische Belastungen - Kräfte, Biegemomente, Beschleunigungen. So werden Rückschlüsse gezogen, welche Folgen simulierte Unfälle im realen Straßenverkehr hätten.
Die Puppen werden für alle Arten von Crashtests verwendet: von sogenannten Schlittenversuchen zur Erprobung von Rückhaltesystemen bis zu kompletten Fahrversuchen in einem präparierten Auto. «Für alle Versuche, bei denen es um die Beurteilung der Insassensicherheit geht, werden Dummys eingesetzt», sagt Hermann Steffan vom Vehicle Safety Institut der Technischen Universität Graz. Nur bei den Versuchen zur Parkschadenbeurteilungen hätten die Puppen Pause.
Dass reale Puppen im Computerzeitalter ihren Job nicht verlieren, liegt am extrem großem Rechenaufwand, den die Simulation von Unfällen in Bits und Bytes erfordert. «Die Zusammenhänge, wie sich ein Fahrzeug und seine einzelnen Komponenten im Crashfall verhalten, sind ausgesprochen komplex. Es müsste jedes Stück Blech, jede Verbindung in aufwendiger Programmierarbeit durch Knotenpunkte verbunden werden», sagt Wolfgang Sigloch von der Dekra. Einen realen Crashtest in der erforderlichen Genauigkeit im Computer nachzustellen, würde auch bei hoher Rechnerleistung sehr lange dauern.
Zwar ließen sich einige Komponenten oder Abläufe gut digital simulieren, bei einem kompletten Fahrzeug sei die Sache ungleich schwieriger. «Immer wieder erleben die Experten in unserem Crashtest-Center auch Überraschungen, indem sich ein Fahrzeug im realen Crash dann eben doch nicht so verhält wie vorher simuliert», sagt Sigloch.
Durch die Bewegungsmöglichkeiten des Halses und die Deformierbarkeit der Brust sind die Messpuppen ideal für realitätsnahe Versuche unter Aufprallbedingungen und derzeit nicht zu ersetzen. «Dummys sind Vielgelenkkörper, deren Verhalten mathematisch nicht hundertprozentig vorhergesagt werden kann. Daher müssen zur Überprüfung der mathematischen Modelle immer noch echte Versuche mit Dummys gefahren werden», sagt Carsten Reinkmeyer, Leiter Fahrzeugtechnik und Sicherheitsforschung im Allianz-Zentrum für Technik.
Die Testkörper müssen dabei einen breiten Spagat hinbekommen. «Die beiden wichtigsten Eigenschaften für Crashtest-Dummys sind, dass sie einerseits sehr robust, andererseits sehr sensibel sein müssen», sagt Wolfgang Sigloch. Sie müssten die starken Belastungen im Crashtest aushalten und dürften dabei nicht kaputt gehen. Gleichzeitig müssten sie zuverlässige Daten liefern. Eventuell beschädigte Teile werden ersetzt. «Die meisten Dummys werden jeweils nach zwei bis vier Versuchen neu kalibriert», sagt Sigloch. Nur wenn sich die Prüfnormen ändern, wird der Dummy in den Ruhestand geschickt.
Doch Dummy ist nicht gleich Dummy. Für Anprallarten wie Frontcrash, Seitencrash und Heckcrash gibt es spezielle Puppen. Das gebräuchlichsten Modell «Hybrid III» wird weltweit bei Frontalcrash-Versuchen, von nordamerikanischen Zulassungstests bis zum europäischen Programm EuroNCAP und der Unfallforschung der Versicherer (UDV) eingesetzt.
Und es gibt den 95-Prozent-Mann. Der ist 1,90 Meter groß und wiegt 97 Kilogramm. Nur 5 Prozent der Bevölkerung sind größer oder schwerer. Bei der «5-Prozent-Frau» sind nur 5 Prozent der Bevölkerung kleiner als 1,55 Meter und leichter als 46 Kilogramm. Verschiedene Kinder-Dummys simulieren die kleinen Verkehrsteilnehmer.
In der Entwicklung setzen Autohersteller zunächst auf sogenannte numerische, also per Computersimulation geschaffene Dummys. Doch auch für die gilt der Realitäts-Check durch ihre analogen Gegenstücke: «Wenn die Fahrzeuge von objektiver Stelle verglichen werden, muss ein physikalischer Dummy in einem realen Fahrzeug verwendet werden. Sonst ist nicht sichergestellt, dass die Computermodelle wirklich vollständig der Realität entsprechen», sagt Steffan von der TU Graz.
Der Grund, warum noch etliche Puppen in den Versuchsanlagen gegen die Barrieren knallen, ist laut dem Experten der österreichischen Hochschule auch gesetzlich gewollt: Deutsche und internationale Behörden akzeptierten für die Typenzulassung von Fahrzeugen, in Deutschland die Allgemeine Bauartgenehmigung (ABG), einen Nachweis über die Sicherheit nur durch reale Tests. Die Angst vor Manipulationen beimSimulieren am Computer sei zu groß. (dpa/gem)