Wrzesnia. Volkswagen lässt in Westpolen die Bagger rollen. Fast eine Milliarde Euro steckt der Autobauer in Wrzesnia bei Posen in die erste eigene Fabrik für den Großtransporter Crafter. Sie soll schon nächstes Jahr mit der Produktion starten. «Wir haben in Polen bei der Fertigung des Caddy ausgezeichnete Erfahrungen gemacht», lobt VW-Nutzfahrzeuge-Chef Eckhard Scholz das deutsche Nachbarland. Und daheim? Da klagte VW-Konzernchef Martin Winterkorn vergangenen Sommer, dass eine Variante des SUV-Modells VW-Tiguan an einem deutschen Standort wirtschaftlich nicht machbar sei. Denn die Produktivität hinke den Arbeitskosten hinterher - ein Dauerbrenner der Industrie hierzulande.
In der Theorie ist alles einfach: So lange die Produktivität mit den Lohnerhöhungen Schritt hält, ist alles gut. Hochlohnstandorte kosten dann mehr, liefern aber auch entsprechend. Doch in der Praxis werden neue Autofabriken vor allem im Ausland gebaut. VW steckt 800 Millionen Euro in das Crafter-Werk. Den lässt Volkswagen noch bis Ende 2016 beim Konkurrenten Daimler in Ludwigsfelde und in Düsseldorf bauen, wo Daimler aktuell seine Personalstärke reduziert.
Als Standort für den künftigen Alleingang ohne Mercedes war bei VW auch Hannover im Rennen, wo die VW-Nutzfahrzeuge ihr Stammwerk haben. Doch am Ende bekam Westpolen den Zuschlag. In Hannover sollen künftig in kleiner Zahl hochwertige Crafter-Varianten entstehen. Damit spielt Deutschland seine Trümpfe aus: Flexibilität und Qualität. Autobauer hierzulande können die Produktion mit Arbeitszeitkonten um bis zu ein Drittel nach oben und unten an die Nachfrage anpassen. Trotzdem: Im globalen Wettkampf haben selbst beste Produktionsbedingungen Grenzen.
Ausland statt Inland - das hat System. Zwischen 2000 und 2013 stieg die Zahl der im Ausland gebauten Autos deutscher Hersteller um gut 130 Prozent, die heimische Produktion dagegen nur um 6 Prozent. Es gab zuletzt sogar Jahre der Stagnation. Seit 2009 bauen die Deutschen mehr Wagen außerhalb Deutschlands als daheim - Tendenz steigend.
Laut Branchenverband VDA lag Deutschland mit 50,58 Euro Arbeitskosten pro Stunde (inklusive Lohnnebenkosten) im vergangenen Jahr an der Spitze einer Aufstellung - die für Polen nur 8,79 Euro nennt, für die USA 28,74 Euro, für Japan 24,96 Euro und für Frankreich 39,63 Euro.
Laut den jüngsten Zahlen für 2013 standen damals im VW-Konzern 28 Produktionsstandorte in Deutschland 39 in Europa (ohne Deutschland) gegenüber. In Asien waren es damals schon 23 - und der Kontinent mit seinem Zugpferd China ist der Schwerpunkt der VW-Neubauten. Während der Konzern auf dem nach China wichtigsten Pkw-Markt der Welt, den USA, erst eine Fabrik zählt und im benachbarten Mexiko drei, ziehen die Wolfsburger derzeit in China die Werke Nummer 18, 19 und 20 hoch.
Das Beratungsunternehmen Deloitte hat die Standortoptimierung in der Autobranche jüngst untersucht. Demnach bauen die Autobauer bis 2016 weltweit 62 neue Standorte - mehr als die Hälfte davon (32) in China, dem mit Abstand wichtigsten Wachstumsmarkt. Von den 32 Neubauten der Zulieferer entfallen 15 aufs Reich der Mitte. Bei den Autoherstellern folgen auf den Plätzen Brasilien vor Südostasien und Mexiko.
Ein Fazit der Studie: Wären nur Arbeitskosten ausschlaggebend, müsste die Verlagerung vor allen gen Länder wie Moldawien, Georgien oder die Philippinen gehen. Doch es gebe entscheidende weitere Faktoren wie «die Verfügbarkeit qualifizierten Personals, die Infrastruktur oder die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen». Deloitte schaut daher auch auf die Lohnstückkosten, die die absoluten Arbeitskosten pro Kopf ins Verhältnis zu Wertschöpfung und Produktivität setzen.
Dabei liegt Deutschlands Industrie nur wenig über dem Schnitt aus 26 Ländern, von denen Großbritannien, Italien und Frankreich die rote Laterne halten. Polen belegt Platz drei - vor Litauen und Lettland.
Die Studie bilanziert, dass die Standortverlagerung im Wesentlichen von der Verschiebung der Endkundenmärkte getrieben sei. Eine Analyse des Beratungsunternehmens EY aus Februar hat dazu Zahlen: In der EU fielen die Pkw-Verkäufe aller Hersteller seit 2005 um 17 Prozent, in den USA stagnierten sie. In China verfünffachten sie sich. Laut Deloitte werden schon 2018 gut zwei Drittel aller Autos in Niedriglohnländern verkauft werden.
In Deutschland will VW-Personalvorstand Horst Neumann künftig noch mehr Roboter am Fließband. Er sagte Ende 2014: «Der Ersatzmann für Routinearbeiten in der Fabrik kostet bereits heute nur etwa fünf Euro je Stunde.» Autoexperte Stefan Bratzel bestätigt den Trend, wonach das Gros der Autoarbeitsplätze hierzulande sinken dürfte, vor allem am Band. Deutschland mit seinen Premiummarken halte aber wegen der höheren Margen in der Tendenz viele Jobs im Inland.
Da passt es, dass die im vergangenen Jahr eröffnete neue Fabrik für den Porsche-Macan in Leipzig für den jüngsten Neubau eines kompletten Autowerks in Deutschland steht. Der Sportwagenbauer gilt als der renditestärkste Hersteller der Welt. Laut Bratzel muss sich künftig zeigen, wie sehr die Forschungsarbeit Jobs im Inland sichert. (dpa/gem)